SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich »Ich möchte an dieser Glücksverblödung nicht teilnehmen«
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Elke Heidenreich, Autorin und Buchkritikerin
Das hier ist Weltliteratur: Herman Melville, der Autor des Moby Dick, hat diese kleine Erzählung geschrieben »Bartleby, der Schreiber« und Bartlebys Satz ist: »Ich möchte lieber nicht.« Er ist ein unglücklicher, gehemmter Mensch, arbeitet in der Wall Street in einer Kanzlei und wenn er was kopieren oder zur Post bringen soll, dann sagt er immer: »Ich möchte lieber nicht.« Er verweigert sich komplett.
Der Anwalt ist ziemlich verzweifelt. Dann kommt er dahinter, dass Bartleby offensichtlich in der Kanzlei auch übernachtet und schläft, weil er gar keine Wohnung mehr hat. Und er bringt es nicht übers Herz, diesen gestörten, stillen Menschen rauszuwerfen. Er wechselt einfach die Kanzlei und lässt ihn wie ein Möbelstück da. Die nächsten Mieter sind aber nicht so freundlich und Bartleby muss raus und endet ziemlich jämmerlich.
Das heißt, wer sein Leben komplett ablehnt, hat irgendwann keins mehr. Was will uns die Geschichte sagen? Dass die Freiheit, nicht zu handeln, letztlich utopisch ist? Hat man das Recht, alles zu verweigern, wenn man die Konsequenzen selber trägt? Oder funktioniert eine Gesellschaft nicht mit diesen Verweigerern, sei es beim Impfen oder beim Kriegsdienst oder bei der Büroarbeit? Es ist ein kleines tolles Stück Literatur von Melville und es lohnt sich immer wieder zu lesen.
So, und jetzt aber das hier, ganz neu: Da geht es auch um Verweigerung, aber ganz speziell um die Verweigerung des ewigen Glücks, der Glücksdiktatur, des Glücklichsein-Müssens, alles soll uns ja neuerdings optimieren, fördern, weiterbringen. Und dieses Buch sagt, warum uns positives Denken nicht weiterbringt. Schimpfen aber schon. Kunst entsteht aus Schmerz und aus Wut entstehen Veränderungen. Und das beschreibt hier die Politologin Juliane Marie Schreiber in ihrer »Rebellion gegen den Terror des Positiven«. Und sie leiht sich Melvilles Satz »Ich möchte lieber nicht«. Und sie schimpft, das ist ein Buch nach meinem Herzen, gegen Wohlfühltees und Wir-sind-uns-wert-Shampoos und diesen ganzen Quatsch, der uns unentwegt glücklich machen soll. ... Glücksdiktatur nennt sie das. Und wir wissen doch, dass es nie die Glücklichen waren, die die Welt verändert und verbessert haben, sondern die Unzufriedenen, die Suchenden, die Unglücklichen.
Wislawa Szymborska, die polnische Nobelpreisträgerin von 1996, hat darüber ein Gedicht geschrieben: »Was nutzt uns glückliche Liebe«, sagt sie. »Die glücklich Liebenden kehren der Welt ja den Rücken, die sind nur mit sich beschäftigt. Wir brauchen die Unglücklichen, die Durchlässigen, die Sensiblen.« Und so ist das auch in diesem Buch. »Soll ich mich«, fragt Schreiber, »eigentlich freuen, dass Venedigs Kanäle jetzt wieder sauber sind? Oder soll ich daran denken, was das gekostet hat? Nämlich 100000 Corona-Tote?«. Man kann nicht immer alles verdrängen, nur um glücklich zu sein. Christian Lindner nennt Probleme »Dornige Chancen«. Ja, hallo? Geht's noch? Reden wir uns jetzt alles schön? Ja klar. Vernichtungskriege sind ja neuerdings auch nur militärische Operationen. Und es stimmt einfach nicht, dass wir unseres Glückes Schmied sind, dass wir alles schaffen können, was wir wollen. Die Umstände sind oft nicht danach.
Und wenn wir uns nicht mit der Machbarkeit und Nicht-Machbarkeit unseres Schicksals versöhnen, dann werden wir verrückt und dann werden wir erst recht unglücklich. Aber nein, wir sollen nach Glück streben. Und Schreiber zeigt hier, dass es Coaches gibt, die wirklich Seminare machen, wo wir lernen, uns selbst zu optimieren, mit Formeln wie dieser hier, ich habe mir das nicht ausgedacht, ich lese es Ihnen vor: »Hast du dich schon mal gefragt, warum du im Meer ertrinkst? Ein Hai aber nicht? Weil der Hai das Wasser als Chance und nicht als Bedrohung wahrnimmt.« Ich meine, geht's noch? Geht's noch verrückter?
Dieses großartige Buch fragt, was eigentlich mit einer Gesellschaft passiert, in der jeder denkt, er müsse am Markt des Glücks bestehen, sozusagen in der eigenen Umlaufbahn rotieren. »Hauptsache, ich bin glücklich.« Aber ob es dauerhaftes Glück gibt oder ob das nur zum digitalen Influencer-Narzissmus führt und ob das einer Gesellschaft guttut, das ist noch sehr die Frage. Das Buch plädiert dafür, nicht auf diese Wirtschaft und ihre monströse Wohlfühlindustrie mit Produkten auf Kosmetik, Nahrung oder Klamotten hereinzufallen. »Glückssuche«, sagt sie, »macht unglücklich«. Lassen Sie sich nicht darauf ein. Lesen Sie dieses kluge Buch. Und wenn einer kommt und sagt, sie müssen sich aber optimieren und Optimismus stärkt das Immunsystem, dann sagen Sie ihm: »Essen Sie ein paar Apfelsinen und gehen Sie jeden Tag spazieren. Das stärkt das Immunsystem auch.« Ich möchte an dieser Glücksverblödung nicht teilnehmen. Ich möchte wie der Mann in Loriots Sketch einfach nur hier sitzen und nicht noch besser werden. Aber ich möchte doch wissen, was derzeit auf der SPIEGEL-Bestsellerliste ist. Das möchte ich schon. Und das macht mich dann auch glücklich.
Mit »Serge« belegt Yasmina Reza bereits seit Monaten einen Platz auf der Bestsellerliste. Und zwar mit der Geschichte der Geschwister Popper, die nach dem Tod der Mutter auf eine Art »Identitätsfindungstrip« nach Auschwitz reisen. Tragikomik aus Frankreich – diese Woche auf der Zehn.
Einen riesigen Sprung von zwanzig Plätzen auf die Neun schafft es Bestsellerautor Jan Weiler. Auch bei ihm geht es darum, was wir über unsere Eltern wissen. Fazit: nicht viel. In »Markisenmann« lernt die fünfzehnjährige Kim ihren leiblichen Vater kennen, nach 13 Jahren Funkstille. Angeblich soll das Buch Weilers Tochter sehr gut gefallen haben.
Ein Teenager ist auch in diesem Buch die Hauptperson: In »Man vergisst nicht, wie man schwimmt« von Christian Huber lernt der fünfzehnjährige Pascal Jacky kennen, das Mädchen aus dem Zirkus. Es ist Sommer 1999 und eigentlich will sich Pascal unter keinen Umständen verlieben. Doch es kommt, wie es kommen muss. Podcast-Star Huber mit einem neuen Bestseller auf der Acht.
Ein alter Bekannte befindet sich hingegen auf der Sieben. Seit sage und schreibe 65 Wochen auf der Liste: »Der Buchspazierer« von Carsten Henn, der Wohlfühlroman für alle Buchliebhaber.
Zehn Plätze auf die Sechs klettert diese Woche der Kolumnist und Vielschreiber Axel Hacke. Sein neues Werk heißt »Ein Haus für viele Sommer«. Was der Bestsellerautor in seinem Ferienhaus auf Elba die letzten dreißig Jahre erlebt und über den Ort gelernt hat, erfahren Sie hier.
Schauspielerin und Regisseurin Laetitia Colombani steigt diese Woche um einen Platz ab auf die Fünf. In »Das Mädchen mit dem Drachen« erzählt die Französin nun die Geschichte des indischen Mädchens Lalita, die schon in ihrem Bestsellerroman »Der Zopf« vorkam.
Und von der Zwei geht es für Wolf Haas abwärts auf die Vier – mit »Müll«. Nach acht Jahren Brenner-Abstinenz gibt es ein Wiedersehen mit dem Grazer Detektiven Simon Brenner. Dieser arbeitet zwischenzeitlich tatsächlich auf dem Müllplatz – und findet dort ein menschliches Knie. Es muss ermittelt werden.
Beständig auf Platz drei bleibt der Jurist und Bestsellerautor Bernhard Schlink. Sein Roman »Die Enkelin« erzählt eine Ost-West-Geschichte. Wieder geht es um Familiengeheimnisse – Abgründe inklusive.
Um Familie geht es auch bei der Nummer zwei: Schauspieler Edgar Selge überzeugt die Leser mit dem autofiktionalen Werk »Hast du uns endlich gefunden«. Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik.
Und – Überraschung! – es gibt einen Neueinstieg auf der Eins: Die Amerikanerin Elizabeth George bietet mit »Was im Verborgenen ruht» den bereits 21. Fall für Inspector Thomas Lynley. Diesmal ermittelt er weitab von seiner britisch-bürgerlichen Komfortzone, in der nigerianischen Gemeinde Nord-Londons – und stößt auf Fälle weiblicher Genitalverstümmelung.