SPIEGEL Bestseller – Mehr Lesen mit Elke Heidenreich Der Musiker, der in einer Sekunde sein ganzes Leben ruinierte
Elke Heidenreich, Autorin und Buchkritikerin
Ich stelle hier ja immer ein neues und ein älteres Buch vor, die beide so ein bisschen zusammenpassen. Ich fange immer mit dem Neuen an, aber heute fange ich aus gegebenem Anlass mit dem Älteren an. Der Anlass ist traurig: Friedrich Christian Delius, der Autor, ist am 30. Mai gestorben. Er war ein sehr politischer Autor, ein kluger, sensibler, wunderbarer Mensch. Und eines seiner wichtigsten Bücher für mich, ist gewesen, »Die Flatterzunge« von 1999.
Das ist ein Buch über einen Musiker, einen Posaunisten aus einem Berliner Orchester, der mit dem Orchester nach Berlin fährt und sich mit einem dummen Jungenstreich, Jungenstreich –naja, das muss man sehen, wie man das einordnet, sein ganzes Leben ruiniert. Er unterschreibt nämlich in Tel Aviv in einer Bar abends eine Rechnung mit Adolf Hitler. Das geht zurück auf einen wirklichen Vorfall, den es gegeben hat. Es war ein Kontrabassist 1997 in einem Berliner Orchester, der genau das gemacht hat. Und jetzt dröselt Friedrich Christian Delius in »Flatterzunge« auf, wie es zu so was kommen kann. Ist dieser Mann, ist dieser Posaunist ein Antisemit? Nein.
Warum macht man so einen blöden Streich? Warum macht man den? Weil offensichtlich eine Reise nach Israel von Anfang an kontaminiert ist. Schon bei der Einreise hat der Mann Angst und denkt: »Was, wenn doch mein Vater irgendwie mehr Schuld im Dritten Reich auf sich geladen hat? Und wenn die meinen Namen entdecken, da ist er sich schon nicht sicher, dann er ist Posaunist, die Posaunen von Jericho lassen ja die ganze Welt einstürzen. Dann denkt er vorher schon was ich da an, soll ich ins Schwarz gehen, wie sonst auch immer? Aber das erinnert vielleicht an die SS. Und Delius wäre nicht Delius, würde er an dieser Stelle nicht beschreiben, wie Helmut Kohl damals seinen ersten Besuch in Israel machte und hatte im Gefolge Peter Boenisch, den Mann von der Bildzeitung, der natürlich, stilsicher wie immer, in einem langen schwarzen Ledermantel in Israel rumlief und nun wirklich aussah, wie einer von der Waffen SS.
Und jetzt dröselt Delius auf, wie dieser Mann, der diesen Blödsinn gemacht hat, abends mit Adolf Hitler zu unterschreiben, wie der fertig wird mit dieser Schuld. Und er macht das in Tagebuchform. Der Mann muss sich natürlich einen Anwalt nehmen, denn er ist jetzt arbeitslos, er ist entlassen, er verliert seine Wohnung, er verliert seine Freundin. Alles nur wegen dieser Eselei. Und dann sagt er: »Andere Leute liefern Waffen an den Irak und der Irak richtet seine Scud-B-Raketen auf Israel. Und die kommen immer so heil davon. Und ich werde bestraft für so einen blöden kleinen Scherz.« Auch da ist wieder Delius doppelbödig und sagt: »Gut, die Großen kommen davon, die Kleinen werden bestraft, aber die Kleinen waren es auch, die alles am Laufen gehalten haben, die damals alles unterschrieben haben.«.
Also dieser Roman hat viele Facetten. Er ist großartig, wieder zu lesen, immer noch aktuell und so schön aufgedröselt mit den realen und psychologischen Verwirrungen, die wir haben, wenn wir als Deutsche nach Israel fahren. Und wenn wir den heute wieder lesen, diesen Roman »Flatterzunge«, wissen wir, dass wir an Delius einen großen Autor verloren haben. Verneigung, Christian, mein Freund, Ade! Du wirst zu Füßen Gottes sitzen, wenn Gott denn Füße hat.
Und das zweite Buch heute heißt »Flammen«. »Flammen« war eine Oper von Franz Schreker in den Zwanzigerjahren. Und es hat Volker Hagedorn geschrieben, ist auch ein Musiker, ein Bratschist. Und Volker Hagedorn nennt sein Buch »eine Musikerzählung«, »eine europäische Musikerzählung 1900 - 1918«. Das waren turbulente Jahre, in denen ja auch der Zweite Weltkrieg vier Jahre lang einen Raum einnahm. Und es war künstlerisch ein neues Jahrhundert und er verwickelt hier tolle Recherchen mit interessanten Musikergeschichten. Europa ist ein bisschen weit gegriffen. Es geht hauptsächlich um Wien, Berlin und Paris und England, London spielt eine große Rolle, weil von dort eine Komponistin kommt, Ethel Smyth, die sich sehr darum bemüht als Frau, wirklich kämpft bei Gustav Mahler als Operndirektor in Wien, dass sie angehört wird, dass sie aufgeführt wird. Und sie schafft es auch. Und sie ist so die heimliche Hauptfigur des Buches, zusammen mit Debussy, der mit »La Mer« auch neue Musikgeschichte schreibt und endgültig die Lösung von Wagner betreibt.
Und was ich gar nicht wusste: Debussy war als junger Mann Reisepianist bei der reichen Nadeshda von Meck, die ihr Leben lang Tschaikowski unterstützt hat. So wächst alles zusammen. Es ist manchmal ein bisschen sehr viel Spezialwissen. Also, was der Dominant-Sept- Akkord ist, wissen wieder nur die Musiker, ist aber egal. Alles in allem ist das eine spannende Musikgeschichte und es zeigt sich, dass von dieser Schneise, die der Weltkrieg da reingehauen hat, sich die Musik bis heute nicht erholt hat. Denn was wir aus den Sechziger- und Siebzigerjahren immer noch zu hören kriegen, hat mit der grandiosen Musik, die damals in den Zwanzigerjahren komponiert wurde, eigentlich nur noch wenig zu tun. Es ist auch so schönes Zeitkolorit. Damals waren in Berlin noch Pferdedroschken und schon Autos. Und da stand der erste Verkehrspolizist der Geschichte auf einer Kreuzung und zwar mit einer Trompete, um den Verkehr zu regeln. Und für mich, interessante und traurige Erinnerungen an alte Zeiten: Damals wurde in Berlin elfmal am Tag die Post ausgeliefert. Als ich ein Kind war, kam sie zweimal am Tag. Heute kann ich froh sein, wenn in der Woche dreimal der Briefträger Lust hat, zu meinem Haus zu kommen. So, jetzt, nachdem ich das gesagt habe, krieg' ich wahrscheinlich gar keine Post mehr. Also, ein lebendiges, gut erzähltes Musikbuch. Und ich bin sehr neidisch auf die Tumulte, die es damals noch gab, dass man sich wegen der Kunst noch prügelte und schlug. Heute gibt es das alles nicht mehr. Jetzt gucken wir aber mal, welche Bücher es auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft haben:
Rosie moderiert eine Radiosendung und kann ihr Glück kaum fassen, als sie die Band »Scarlet Luck« interviewen darf. Vor allem der Drummer der Band fasziniert sie. Von Adam ist bekannt, dass er seit Jahren keine Berührung duldet – von niemandem. Natürlich geht bei diesem Termin alles schief und die Geschichte um Rosi und Adam nimmt ihren Lauf. »Lonely Hearts« von Mona Kasten – diese Woche auf Platz zehn.
Renate Bergmann war mal kurz auf Platz 19 verschwunden und ist diese Woche wieder zurück in den Top Ten. Die Online-Omi erreicht ihre Fans eigentlich per Twitter, doch auch in Buchform kommen die Lebensweisheiten der Kunstfigur gut an. »Dann lassen wir eben die Heizdecke weg« – diese Woche wieder auf der Neun.
Nachdem »Der Buchspazierer« nach einer gefühlten Ewigkeit nun nicht mehr hier zu finden ist, bleibt uns Carsten Henn mit seinem Neuling »Der Geschichtenbäcker« trotzdem erhalten. Der Titel ist keine reine Metapher. Henn widmet sich in seinem neuesten Werk tatsächlich der Kunst des Brotbackens. Die Geschichten des Bäckers Giacomo, der uns die einfachen Dinge des Lebens näherbringt – diese Woche wieder gestiegen auf Platz acht.
Weiterhin gemütlich im hinteren Bereich eingerichtet haben sich Micky Beisenherz und Sebastian Fitzek. Ihr Mystery-Comedy-Thriller »Schreib oder Stirb« unverändert auf Platz sieben.
Sich aus einer toxischen Beziehung befreien, nicht mehr gefallen wollen und endlich das eigene Leben in die Hand nehmen. Diese und andere Themen rund um weibliches Empowerment verhandelt Bestsellerautorin Ildikó von Kürthy in ihrem aktuellen Roman. Wir sind dabei, wenn die Protagonistin Ruth ihr ganzes Leben umkrempelt. Ob bei so viel feministischer Empörung Pink die richtige Farbe für das Cover ist, kann jede oder jeder für sich entscheiden. »Morgen kann kommen« – diese Woche auf Platz sechs.
Kommissar Bruno ermittelt in seinem 14. Fall – und zwar mit unorthodoxen Methoden. Im prähistorischen Museum lernt Bruno, dass sich anhand von Knochenfunden das Aussehen eines Menschen rekonstruieren lässt. Vielleicht könnte diese Technik der Schlüssel in einem ungelösten Mordfall werden. Martin Walker diese Woche mit »Tête-à-Tête ein weiteres Mal auf Platz fünf.
Von ganz oben ging es auf die Vier, und da bleibt der knuffige Kommissar aus dem Allgäu auch diese Woche: Kluftinger ermittelt im Umfeld einer prähistorischen Ausgrabung, bei der leider auch der leitende Professor Brunner wieder ausgegraben werden musste. Der zwölfte Fall des erfolgsverwöhnten Autorenduos Klüpfel und Kober bleibt uns sicherlich noch einige Zeit hier in dieser Liste erhalten.
Weiterhin beliebt bei der Leserschaft Bonnie Garmus gefeierter Debütroman um die kluge Chemikerin Elizabeth Zott, die sich in Amerika der Sechzigerjahre mit Erfolg in einer von Männern dominierten Welt durchsetzt. Eine Frage der Chemie rutscht von Platz zwei auf die Drei.
Ein alter Bekannter ist zurück: Commissario Brunetti ermittelt in seinem 31 Fall – wie immer in seiner Heimatstadt Venedig. Eine Jugendfreundin bittet den Kommissar um Hilfe. Sie sieht die Familie ihrer Tochter bedroht. Erst nach einem Überfall auf die Familie nimmt Brunetti die Sache ernst und beginnt zu ermitteln. Donna Leon, emeritierte Professorin für englische Literatur und hochdekorierte Bestsellerautorin aus New Jersey, lebte lange selbst in Venedig und hat die Stadt mittlerweile gegen ein Domizil in der Schweiz eingetauscht – wegen der vielen Touristen »Milde Gaben« letzte Woche direkt auf Platz eins eingestiegen, diese Woche auf der zwei.
Und die neue Nummer eins diese Woche ist der posthum veröffentlichte Kriminalroman, der 2021 an Krebs verstorbenen Lucinda Riley. Die aus Nordirland stammende Schriftstellerin wurde mit ihrer »Sieben Schwestern«-Reihe weltberühmt. Mehr als 25 Millionen Exemplare wurden davon verkauft. In »Die Toten von Fleet House« ermittelt Detective Jazz Hunter in einem Todesfall unter Schüler*Innen des traditionsreichen St. Stephans Internats im idyllischen Norfolk. Bald wird klar, dass der verstorbene 18-jährige Charlie ein Unsympath war, der seine Mitschüler gequält hat. Hunter vermutet einen Racheakt. Bald erkennt sie, dass sie tief in die verschlossene Schülerschaft eintauchen muss, wenn sie die Wahrheit ans Tageslicht bringen möchte.