Lyrik von Houellebecq Weltschmerz und Oralverkehr

Die Endzeit-Poesie des Pornografen: Frankreichs Vorzeige-Provokateur Michel Houellebecq neigt in seinem neuen Lyrikband "Gestalt des letzten Ufers" bisweilen zur Pose. Banalität steht neben Radikalität.
Skandalautor Houellebecq: "Und das Auge sieht in allem nur Dunkles"

Skandalautor Houellebecq: "Und das Auge sieht in allem nur Dunkles"

Foto: Marcial Guillen/ dpa

"Ich habe kein Innenleben mehr,/Keine Leidenschaft, keine Wärme", schreibt Michel Houellebecq in seinem neuen Lyrikband. Das Buch, im letzten Jahr in Frankreich und jetzt auch bei uns erschienen, ist in fünf Kapitel unterteilt und trägt den melancholischen Titel "Gestalt des letzten Ufers". In Frankreich wurde es überwiegend gefeiert. Es gab aber auch kritische Töne: Der Autor, Spezialist für Düsteres, der zuletzt vor 15 Jahren einen Lyrikband veröffentlichte, scheine sich hier selbst zu parodieren, hieß es.

Den notorischen Provokateur, den ewigen bösen Buben der französischen Literatur findet man in diesen Gedichten selten. Statt dessen schreibt da jemand, der im Weltschmerz aufgeht, der die ganze Klaviatur von Einsamkeit, Melancholie, Abschied und Tod beherrscht - es ist hier sicher erlaubt, das lyrische Ich und den Autor gleichzusetzen. Houellebecq, im Ausland vor allem als Romancier bekannt, protokolliert "die B-Seite des Daseins", wie es in einem Gedicht heißt. Ein Buch wie ein langer Abschiedsbrief. Auch dem "Ennui" im Sinne Baudelaires, dem Abscheu vor der Welt, begegnen wir immer wieder. Das Leiden gerät dabei fast zur Pose, wirkt stellenweise mehr behauptet als für den Leser sinnlich erfahrbar: "Und das Auge sieht in allem nur Dunkles", heißt es etwa. Nur manchmal blitzt in dieser entzauberten Welt Zuversicht auf, die jedoch gleich wieder gedeckelt wird: "Eigentlich ist es ziemlich ärgerlich, festzustellen, dass ich immer noch imstande bin zu hoffen." An einer anderen Stelle heißt es: "You're approaching the end,/Alter ölverschmutzter Vogel." Endzeit-Poesie. Houellebecq verschanzt sich nicht mehr hinter dem kühlen Zynismus, für den er bekannt ist, er liefert sich seinen Innenwelten aus und steht dabei kurz vor dem Abgrund. Mutig ist die Radikalität, mit der er sich selbst begegnet.

Zwischendurch vermittelt uns der Autor, der für seinen Roman "Karte und Gebiet" 2010 den Prix Goncourt bekam, ein bisschen Zivilisationskritik, wie wir es von ihm kennen. In dem Kapitel "erinnerungen eines schwanzes" heißt es: "Die Männer wollen alle nur den Schwanz/gelutscht bekommen/So viele Stunden am Tag wie möglich/Von so vielen hübschen Mädchen wie möglich." Nicht selten gleitet Houellebecq in Banalitäten ab. In diesen Momenten fehlt das Hintergründige, man vermisst Andeutungen und Leerstellen, Schwingungen der Sprache. Doch dann blitzen plötzlich Verse und Aphorismen auf, die einen größeren Resonanzraum haben, das klingt dann zum Beispiel so: "Die sich vor dem Tod fürchten, fürchten sich auch vor dem Leben."

Vorliebe für die Dichter des 19. Jahrhunderts

Stilistisch kommt dieser Band seltsam uneinheitlich daher. Da finden sich Aphorismen, umgangsprachliche Wendungen, englische Einsprengsel, Trivialitäten, Pornografisches. Daneben klassische Alexandriner, wie wir sie etwa von dem Dichter Stéphane Mallarmé kennen, den Houellebecq verehrt. Der Autor, der aus seiner Vorliebe für die Dichter des 19. Jahrhunderts (ebenso Baudelaire oder Verlaine) keinen Hehl macht, verweigert sich hier ganz bewusst der Modernität. Die Reime, die er verwendet, wirken stellenweise allerdings recht gezwungen. Immerhin entschuldigt er sich an einer Stelle in einem Klammer-Satz für einen nicht gelungenen Reim, zeigt sogar, was sonst gar nicht seine Sache ist, einen Funken Selbstironie: "(Das reimt sich nicht so gut, pardon)." Der bewusste Spagat zwischen Vergangenheit und Moderne könnte reizvoll sein, erscheint hier aber etwas künstlich.

Die überwiegend hervorragende Übersetzung von Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel erleichtert den Zugang zu dem Band, der durchgängig zweisprachig ist. Glücklicherweise haben sie darauf verzichtet, auch im Deutschen Reime zu suchen. Was freilich den Charakter des Textes komplett verändert, die Übersetzung wirkt moderner als das Original. Ein Glücksfall ist übrigens auch die Gestaltung des Buches: schwarzer Grundton, durchbrochen von einer zarten türkisfarbenen Schrift. Wer in das Buch hineinschauen möchte, muss erst eine Verschlussklappe öffnen - ein bisschen Geheimnis darf sein.

Es gehört zur Tradition der Weltschmerz-Poesie, das eigene Schreiben als Rettung anzusehen. Schreiben schafft Kontinuität, stellt sich der Verzweiflung, dem Näherrücken von Alter und Tod entgegen. Das ist auch bei Michel Houellebecq nicht anders. In einem Gedicht heißt es: "Das Gefühl, es reißt mir die Eingeweide heraus, wenn ich aufhöre zu schreiben." So ist der düstere Titel des Buches, der nach Schwanengesang klingt, dann vielleicht doch nicht wörtlich zu nehmen. Das Leiden geht weiter, aber das Schreiben auch.

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