Multitalent Soname Yangchen "Für Freiheit riskiert man den Tod"
Eine Polizeistation im englischen Seebad Brighton. Manchmal ertönen fremdländische Klänge aus dem Gebäude. Dann singt Soname Yangchen. Seit Jahren ist die Tibeterin Putzfrau auf der Wache - eine Putzfrau, von der so mancher Polizist ein Autogramm haben will. Denn wenn sie nicht saubermacht, tritt die 32-Jährige neben Stars wie Elton John oder Björk bei Benefizgalas als Sängerin auf. In ihren Liedern erinnert sie sich an Tibet und den langen, steinigen Weg, der hinter ihr liegt.
Als Kind einer alten tibetischen Adelsfamilie hatte es Soname schwer in ihrer Heimat, wie sie in ihrem Buch "Wolkenkind" eindrücklich erzählt: Die chinesischen Besatzer terrorisierten ihre Familie, wo immer sie nur konnten. "Meine Eltern wurden öffentlich ausgepeitscht, und wir Kinder mussten dabei zuschauen. Großvater wurde mit dem Kopf über ein Feuer aus brennenden scharfen Pfefferschoten gehalten. Es war grausam und schmerzhaft, sein Gesicht schwoll an und wurde fürchterlich rot. Tagelang war er danach erblindet."
Um wenigstens die Tochter in Sicherheit zu bringen, schickten Sonames Eltern sie in die tibetische Hauptstadt Lhasa, wo eine Tante sich um sie kümmern sollte. Die konnte mit dem sechsjährigen Mädchen allerdings nichts anfangen und schob es von heute auf morgen in eine andere Familie ab. Dort wurde Soname jahrelang als Haushaltssklavin missbraucht. Mit 16 stand für sie fest: Sie musste weg. Quer durch den Himalaja floh sie über Nepal nach Indien, Hunderte Kilometer zu Fuß.
Noch immer ist die Tibeterin froh, die Strapazen der Flucht überlebt zu haben. Hunger, Erschöpfung, blutige Füße, Eiseskälte - wenn sie heute in der Polizeistation putzt, könne sie sich das gar nicht mehr vorstellen, sagt Yangchen: "Ich glaube, das, was mich damals aufrecht gehalten hat, war die Aussicht auf Freiheit. Das hat mir die Kraft gegeben weiterzugehen. Für Freiheit nimmt man den Tod in Kauf. Ich habe mir gedacht, wenn ich sterbe, dann sterbe ich wenigstens glücklich!" Ihr größter Traum sei es dabei gewesen, den Dalai Lama zu treffen, und so führte ihr Weg in die indische Stadt Dharamsala, den Regierungssitz des geistigen Führers.
Doch Freiheit fand sie auch hier nicht. Sie wurde vergewaltigt und bekam ein Kind. Ohne Beruf und Ausbildung versuchte sich die junge Frau mit ihrer Tochter allein durchzuschlagen. "Ich hatte damals kein Geld, kein Einkommen und auch sonst keine Hilfe. Also konnte ich meine Miete nicht bezahlen und kein Essen kaufen", erzählt Soname und schließt die Augen. "Das bisschen, was ich an Nahrung bekommen konnte, habe ich meiner Tochter gegeben. Ich selbst habe einfach so viel Wasser wie möglich getrunken, um irgendwie meinen Magen zu füllen." Als sie wieder aufblickt, wirkt sie sehr traurig: "Es ging nicht mehr, ich musste meine Tochter irgendwann nach Tibet zurückschicken. Sonst hätte keine von uns eine Chance gehabt."
Nach der Trennung von ihrer Tochter hielt Soname nichts mehr in Dharamsala. Immer auf der Suche nach einem Zuhause und Arbeit, ging sie nach Delhi. Und tatsächlich trat dort die lang ersehnte Wendung zum Guten ein. Sie lernte einen der reichsten Männer Indiens kennen, der sie aufnahm und als Hausdame einstellte. Zum ersten Mal in ihrem Leben traf die junge Tibeterin nun auf Europäer. Sie gingen im Haus aus und ein, und genossen es, sich immer wieder die Geschichte von Sonames Flucht erzählen zu lassen. "Zum ersten Mal fühlte ich ein Stück von der Freiheit, die ich mir immer gewünscht hatte!", erinnert sie sich lächelnd. Auch wenn ihr die westlichen Sitten und Gebräuche manchmal missfielen, begann sie sich trotzdem immer mehr für Europa zu interessieren. Es dauerte nicht lang und sie lernte einen Franzosen kennen, der sie erst nach Frankreich einlud und ihr später den Umzug nach England ermöglichte.
Mit viel Liebe zum Detail beschreibt Soname in ihrem Buch "Wolkenkind", wie sie sich langsam an den Westen gewöhnte und der Westen an sie: "Was ich am besten konnte, war Putzen, und so bekam ich einen Putzjob in einer Freimaurerloge und später dann in einem Polizeirevier. Man wunderte sich, wie stark ich war - ich konnte mehrere volle Abfalleimer auf einmal hochheben und wegtragen." Immer noch beginnt sie laut zu lachen, wenn sie an ihr Erstaunen über "fahrende Treppen" und "Maschinen, die den Küchendunst vom Ofen verschwinden lassen", denkt.
In England fand Soname Yangchen nicht nur ihren Frieden und eine Arbeit: "Ich habe hier auch meine Stimme entdeckt!", sagt die Tibeterin stolz. Das war vor sechs Jahren. Sie sei zu einer Hochzeit eingeladen gewesen und habe sich glücklich und ausgelassen gefühlt. "Auf dem Fest gab es tolle Gerichte und die exquisitesten Drinks - aber keine Musik! Das kannte ich aus Tibet nicht. Also habe ich die Gäste gefragt, ob sie tibetische Berglieder hören wollten. Und dann habe ich einfach angefangen zu singen."
Fast eine Märchengeschichte: Unter den Gästen war auch ein Musikproduzent. Er entdeckte die spontane Sängerin als neue Stimme Tibets. "Für mich war das eine große Chance", erklärt Soname. Sicher, sie liebe ihre Arbeit in der Polizeistation, aber mit ihren Auftritten und Liedern könne sie innerhalb der westlichen Welt auf die verheerende Situation in ihrem Heimatland aufmerksam machen: "Ich hoffe, dass ich Tibet auf diese Weise irgendwie helfen kann. Denn ich habe das Leid erfahren, das es dort immer noch gibt. Es wird gefoltert, Menschen werden verhaftet und verschwinden von heute auf morgen für immer von der Bildfläche. Das weiß in Europa niemand!"
So dramatisch und unvergleichlich Sonames Geschichte streckenweise klingt, in ihrem Buch ist es ihr gelungen, sie in einfachen Worten nachvollziehbar zu machen. Schritt für Schritt nimmt sie die Leser mit auf ihren atemberaubenden Weg, der in einer schlichten Polizeistation in Brighton vorerst zu Ende ging: "Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl angekommen zu sein", sagt die Tibeterin. "England, meine Arbeit und mein Gesang bedeuten für mich Frieden. Endlich kann ich so sein, wie ich bin."
Soname Yangchen: "Wolkenkind", Droemer/Knaur, 320 Seiten, 19,90 Euro