Zum Tode Peter Kurzecks Der Sound des kindlichen Staunens

Peter Kurzeck: Eigentlich erzähle ich mich selbst
Foto: Erika SchmiedDer Vergänglichkeitsverzweifler Peter Kurzeck ist gestorben, in Frankfurt, in jener Stadt also, in der er einmal versucht hat, ein bürgerliches Familienleben zu führen. In jener Stadt, deren buntes Milieu ihm zugleich gestattete, sich radikal einer Schriftstellerexistenz hinzugeben.
Kurzeck hat gern die Anekdote erzählt, wie aus einem kleinen Auftrag für das alternative Stadtmagazin "Pflasterstrand" ein erstes Ortsporträt entstand. Es sollte ein Beitrag über die wirtschaftlichen Perspektiven des Bahnhofsviertels für Daniel Cohn-Bendits Zeitschrift werden. Doch dieser Text war mehr, er zog eine Idee nach sich. Kurzeck brachte sie auf die Formel: "Die ganze Gegend erzählen, die Zeit."
Später sollte daraus "Das alte Jahrhundert" entstehen, ein auf zwölf Bände angelegter Romanzyklus über die verlorene Kindheit in der oberhessischen Nachkriegsprovinz. Das gigantische Werk wird auch dann noch unvollendet bleiben, wenn der für seine wegweisenden Klassiker-Editionen berühmte Stroemfeld Verlag das ein oder andere Manuskript aus dem Nachlass veröffentlichen sollte. Bislang betreute der Verlag mit unendlicher Geduld das Werk dieses monomanischen Erzählers.
Eine Schwäche für anarchische Eskapaden
Selbst wenn Kurzeck frei erzählte, entstanden im stundenlangen Vortrag druckreife Texte. Das beweisen seine erfolgreichen Hörbücher. Wobei die CD sich als ein Medium erwies, das den Erinnerungssound des kindlichen Staunens über die Welt erweiterte. Und zwar um die weich rollende Stimme eines älteren Mannes, dessen Wurzeln gut hörbar, doch sehr schwer verortbar in einer Art kakanischem Hessen liegen mussten.
Mit dem unwiderstehlichen Singsang eines Märchenonkels, der seine Schwäche für anarchische Eskapaden pflegt, beschwört Kurzeck in seinem Hörbuch "Ein Sommer, der bleibt" die bäuerliche Welt im hessischen Staufenberg herauf. Dort verbrachte der 1943 im böhmischen Tachau geborene Flüchtlingsjunge seine Kindheit. In "Unerwartet Marseille" feiert er seinen Aufbruch aus der ländlichen Idylle: Kurzeck musste Staufenberg verlassen, um es zum Zentrum seines schier uferlosen Werks zu machen.
Es wird nicht einfach sein, den Nachlass dieses radikalen Schriftstellers zu sichten. Denn Kurzeck praktizierte, was als romantisches Künstlerklischee noch immer durch die Welt geistert: Der vom Mangel der frühen Kindheit geprägte Mann, der selbst den Kühlschrank in seinem südfranzösischen Alterssitz mit seinem Lebensmittel Papier füllte. Kurzeck lebte, um zu schreiben, und er schrieb, um die Bilder seines Lebens in Worte zu verwandeln. Dass Erzähl- und Lebenszeit sich nicht mit der erzählten Zeit unter dem Dach seiner Bücher zur utopischen Dreisamkeit finden wollten, empfand er als Skandal, den er nicht hinnehmen konnte. Das macht seine radikale Modernität aus.
Suggestives Stakkato verbloser Sätze
Mit "Vorabend", dem fünften Band des Zyklus, legt Kurzeck im Jahr 2010 auf 1000 Seiten etwas vor, das so schön und wahr ist, dass es zugleich tröstend ist, wie es nur große Kunst sein kann: "Vorabend" entfaltet ein in der deutschen Literatur einzigartiges Panorama der bäuerlich-proletarischen Welt. Es verwebt Vergangenheit und Gegenwart im suggestiven Stakkato der oft verblosen Sätze miteinander.
Eigentlich erzähle er sich selbst, sagte Kurzeck bei einem Gespräch anlässlich des Erscheinens von "Vorabend", wenn er in dem Zyklus, der seiner Tochter gewidmet ist, von früher spricht: von ganz früher, als er selbst ein Kind war, und von dem Früher, als er der Kleinen eine Welt zusammenfügte, mit Pferdefuhrwerken, dem Geruch des Heus, den Kirschen in Nachbars Garten, dem Mond, der einen behütet wie im Märchen. Den bösen Wolf Zeit hat Kurzeck nicht besiegt, aber er hat dabei ein ganzes Zeitalter für uns eingefangen.