Roman über Hausbesetzer "Drehe ich die Heizung auf, fühle ich mich reich"

In besetztem Haus (Berlin-Friedrichshain 2011)
Foto: imago/ Florian Schuh
Nell Zink, Jahrgang 1964, weiß, wie schnell sich ein Leben radikal ändern kann. Die US-Amerikanerin, seit Jahrzehnten in Deutschland, promovierte in Tübingen in Medienwissenschaften, arbeitete als Übersetzerin und schrieb Romane nur für sich. Ihr Debüt "Der Mauerläufer" erschien, als sie 50 war, und wurde sofort zum Bestseller, der zweite Roman, "Mislaid", wurde für einen National Book Award nominiert. "Nikotin" ist ihr dritter Roman binnen anderthalb Jahren.
SPIEGEL ONLINE: Frau Zink, Ihr neuer Roman "Nikotin" spielt in der Hausbesetzerszene in Jersey City - heute. Ist das Sujet nicht ein wenig aus der Zeit gefallen?
Zink: Nein, auf keinen Fall, diese Lebensweise ist präsenter denn je. Es ist längst Mainstream, so zu leben wie die Aussteiger vor 30 Jahren. Man hat einen eigenen Gemeinschaftsgarten, bastelt sich sein Rad selbst - früher waren es Anarchos, heute bärtige Hipster in Tweedjacken.
SPIEGEL ONLINE: Die Besetzer in Ihrem Roman wirken apolitisch und opportunistisch: Die einen definieren sich über ein Künstlermöbel, die anderen wirken wie behütete Bildungsbürgerkinder, die sich um indigene Völker kümmern wollen, wieder andere tun sich zusammen, weil sie sich als Raucher diskriminiert fühlen.
Zink: Es ist sehr sanfte Realsatire, denn die Wirklichkeit ist so absurd. Das feministische Haus "Stay Free" gibt es in Philadelphia wirklich - benannt nach einer Slipeinlage. In andere darf man nur einziehen, wenn man sich für den ÖPNV engagiert. Und natürlich verstellen sich die Leute, um so an Wohnraum zu kommen.
SPIEGEL ONLINE: Nun leben Sie lange in Deutschland, inzwischen in Bad Belzig, südöstlich von Berlin. Was unterscheidet die Hausbesetzerkultur hier und in den USA?
Zink: Die Vordenker mögen die gleichen sein, alle mögen bereit sein, ohne Dusche zu leben, aber die Situation vor Ort ist anders: In Philadelphia oder im rust belt der USA gab es bis vor Kurzem ganze leerstehende Häuserzeilen, ausgebrannt, mit Wasserschaden, ohne Glas in den Fenstern, wo nichts mehr funktionierte. Werden diese Gebäude besetzt, freuen sich die Nachbarn, weil es die Gegend belebt. Wenn in den USA Leute mit 16 obdachlos werden, weil der Stiefvater sie nicht leiden kann, dann bleiben ihnen oft nur solche Häuser. Diese Leute haben keine utopischen Hintergedanken.
SPIEGEL ONLINE: Sie wollen nur überleben.
Zink: Ja. Und zwar unter harten Bedingungen. In Deutschland würde da pro Person ein Sozialpädagoge kommen. Abgesehen davon: Deutsche linke Widerständler in den Achtzigern waren ganz schön dreckig. In den USA urinierten die Bewohner in Flaschen und kackten in Plastiktüten - in Berlin hockten sie sich einfach auf die Straße. Das war ein politischer Akt.
SPIEGEL ONLINE: Wieso kennen Sie die Berliner Hausbesetzer so gut?
Zink: Ich kenne die Szene, seit ich zu Silvester 1983/84 erstmals in Berlin war, zwei Wochen in Neukölln. Ich hatte dort Freunde, Partys fanden nur in besetzten Häusern statt. Ich habe den ganzen Wandel hier mitbekommen, bis hin zur Selbstverwaltung. In meinem Roman ist der gleiche Geist am Werk: In den Häusern leben nicht schmuddelige Punks oder Asoziale, sondern Leute, die an eine Utopie glauben.
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26.03.2023 09.00 Uhr
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SPIEGEL ONLINE: Haben Sie mal in einer Kommune gewohnt?
Zink: Ich war Teil der anarchistischen Szene in Philadelphia in den Neunzigerjahren, habe schon zuvor in Kooperativen mit Plenumsbesprechungen gelebt. Nicht, dass es mir immer Spaß gemacht hätte. Aber wenn man die Wahl hat zwischen einer Wohnung für 250 Dollar oder einem Zimmer für 87,50 Dollar ...
SPIEGEL ONLINE: In Deutschland ist die Wohnraum- und Mietpolitik so aktuell wie lange nicht. Ist das das Thema der Stunde?
Zink: Dass so viele kommunale Wohnungen gewinnbringend veräußert wurden, ist ein Armutszeugnis für die hiesige Politik. In den USA ist das Thema noch zentraler, Immobilienblase sei Dank. Manche Hausbesitzer haben so viele Schulden, dass sie sich umdrehen und gehen: In einigen Vororten von Las Vegas steht viel leer.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Hauptfigur Penny ist 23, als sie von ihrem Vater eines der besetzten Häuser erbt - und zieht mit ein. Sie erhielten für Ihr neues Buch angeblich einen Vorschuss von 425.000 US-Dollar. Bis dahin lebten Sie in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Bad Belzig. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Besitz verändert?
Zink: Penny ist Twentysomething und will arbeiten, sie will noch was erreichen! Als ich reich wurde - man kann es nicht anders beschreiben - fragte ich mich: Was mache ich jetzt? Mache ich endlich den deutschen Führerschein und schaffe mir ein Auto an? Davon träume ich immer noch. Aber Besitz war mir nie wichtig, das scheint sich nicht so schnell zu ändern. Ich kenne Autoren, die haben sich schöne große Häuser gekauft. Doch das sind Menschen aus der Mittelschicht, die sind so aufgewachsen, für sie gehört das dazu.
SPIEGEL ONLINE: Und was gehört für Sie dazu?
Zink: Dass ich meine klassische Künstlerexistenz leben darf. Es wirkt für mich immer noch wie Luxus, wenn ich die Heizung aufdrehe. Im Winter ohne zwei Pullis in der Wohnung, da denke ich: Wow, cool, ich bin reich! Mir ist klar geworden: Ich will keine Putzfrau, ich will nicht Rasen mähen und keine Nachbarn, die Rasen mähen. In einem Zimmer zu leben ist für mich genau das Richtige. Ich schlafe meistens in der Diele, weil es da ruhiger ist. Wenn ich meine Fixkosten klein halte, habe ich mehr Freiheit. Zumal es keine Garantie gibt, dass die Vorschüsse in den USA so großzügig bleiben wie jetzt.
SPIEGEL ONLINE: Selbst wenn: Bei Ihrem Lebensstil reicht das Geld eine Weile.
Zink: Das stimmt. Aber der Markt ist eingebrochen, das liegt auch an der politischen Situation. Es kann sein, dass Donald Trump die Gesellschaft, unsere Gewohnheiten so radikal umkrempelt wie Berlusconi in Italien. Und dass es eine Generation dauern wird, bis es sich wieder wandelt. Derzeit beschäftigen sich die Menschen im Kulturbetrieb nur noch mit Trump. Also: nicht mehr mit Romanautoren.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind noch nicht lange Teil dieser Branche.
Zink: Mein Debütroman kam erst 2014 raus. Nie hätte ich geahnt, dass ich vom Schreiben leben könnte - sonst hätte ich es früher versucht! Dann hat mich ausgerechnet Jonathan Franzen eines Besseren belehrt. Ich schrieb ihm 2011 einen Brief über die schwierige Situation für den Vogelschutz auf dem Westbalkan: Ich wollte, dass er als Journalist etwas darüber macht. Er meinte dann, ich solle meine Prosa verkaufen und zwar sehr teuer, und drehte mich seiner Agentin an.
SPIEGEL ONLINE: Dazu Ihr Dasein als "armer Poet" wie im Gemälde von Carl Spitzweg. Hatten Sie selbst einfach eine gute Story?
Zink: Bis dahin hatte ich mit den seriösesten Absichten Romane nur für mich und einen einzigen Freund geschrieben. Und die beste Geschichte, die man als Debütautorin haben kann, ist: Ich bin 19! Wenn man mit 50 eine neue Karriere anfängt, muss man eine Ausrede haben. Bei mir war es so skurril, dass ich es selbst nicht glauben kann.
SPIEGEL ONLINE: Das erinnert an Penny: Sie könne zig Varianten von sich präsentieren, sagt sie, sie dienten eh dazu, Menschen zu manipulieren.
Zink: Das Schöne ist: In einem Menschen stecken viele Persönlichkeiten und Interessen, die widersprüchlich sind. Sie lassen sich nicht so zusammenpuzzeln, dass es passt. Die Welt ist nunmal brüchig.