Netz-Avantgardist Doctorow Professor Unrast
Cory Doctorow hat den Ruf, ein rastloser Zeitgenosse zu sein. Der 36-jährige Schriftsteller aus Toronto wurde schon zum "William Gibson auf Speed" gekürt, in Anlehnung an den einflussreichen amerikanischen Science-Fiction-Autor. Als Mitherausgeber von Boingboing.net füttert er auch den meistverlinkten Blog der Welt permanent mit neuen Einträgen. Der Netzaktivist ist dafür bekannt, ohne Umschweife über neue Technologien und restriktive Urheberrechte Auskunft zu geben. Aber dass er so schnell sein würde, überrascht doch. Keine fünf Minuten der ersten Interviewanfrage klingelt das Telefon: "Hier ist Cory Doctorow, ich bin gerade in New York und habe ein wenig Zeit. Sollen wir jetzt reden?"
Zwischen einem Umzug nach London, einer Science-Fiction-Messe in Osaka und einer Lesereise durch Australien hat sich ein kleines Zeitfenster geöffnet, das in aller Herrgottsfrühe genutzt werden will.
Gut, dass der Interviewpartner Cory Doctorow heißt: Aus dem Stegreif feuert er ein Gewitter an Geistesblitzen ab, deren nerdige Abschweifungen eloquent in vollständige Sätze und politische Zusammenhänge münden. So behält er auch dort den Überblick, wo der Großteil der vorm Bildschirm hockenden Menschheit das Netz vor lauter Daten nicht mehr sieht. Cory Doctorow verkörpert geradezu Beschleunigung, Mobilität und die Wissensexplosion von den Rändern im Informationszeitalter.
Verächter des Digital Rights Management
Selbst die "New York Times", der "Guardian" oder Microsoft ziehen den Starblogger als Orakel in Internetfragen zu Rate. Dank seiner Online-Expertise wurde der Studienabbrecher im letzten Jahr auch zum Gastprofessor an die University of Southern California berufen. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE bringt der Multitasker sein schier entgrenztes Arbeitsfeld auf einen Nenner: "Mein Job ist es, die Reaktionen der Gesellschaft auf Technologie zu erklären, zu kritisieren und mitzuformen. Besonders in den Bereichen, in denen Technologie uns nicht mehr befreit, sondern kontrolliert. Daran versuche ich etwas zu ändern."
So ist Cory Doctorow federführend in der Kritik gegen einschränkende Urheberrechte - das neuralgische Feld, in dem seit einiger Zeit die wirtschaftlichen, ästhetischen und ethischen Fragen um geistiges Eigentum in Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit kollidieren. Dabei zählt Doctorow nicht nur zu den schärfsten Verächtern von Digital-Rights-Management-Systemen (DRM), die die Kopierbarkeit digitaler Medien verhindern sollen.
Als Science-Fiction-Autor hat er 2003 erstmals einen Roman unter der Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht und im Internet frei verfügbar gemacht. Die in Stanford entwickelte Lizenz ermöglicht es Autoren, der Öffentlichkeit Nutzungsrechte an ihren Werken einzuräumen, wie etwa den kostenlosen Download und die freie Weitergabe, sofern daraus kein kommerzieller Nutzen gezogen wird. Eine erweiterte Fassung erlaubt zudem Neubearbeitungen der Werke.
Übergeek des Web, Hoffnungsträger der Science Fiction
Der Vorstoß ins Online-Publishing hat sich gelohnt. Über 750.000 Mal wurde Doctorows Debüt "Down And Out In The Magic Kingdom" von der Website des Autors heruntergeladen ungezählt sind die Kopien, die von anderen Seiten aus in den Umlauf gekommen sind. Es existieren Fan-Übersetzungen, Comics und andere Visualisierungen aus dem Roman. Trotzdem - oder gerade deswegen, wie Doctorow behauptet - befindet sich das im Tor Verlag erschienene Buch mittlerweile in der 7. Auflage. Darüber hinaus ist sein Autor quasi zum "Übergeek" des Word Wide Web und Hoffnungsträger der Science Fiction aufgestiegen.
Schon sehen die Wächter des geschriebenen Worts den Untergang des Abendlands heraufziehen. Dagegen hält Doctorow nicht nur den Erfolg seiner kostenlos verbreiteten drei Romane und Kurzgeschichten. Für ihn stellt der freie Informationszugang eine Notwendigkeit dar: "Künstlerisch sehe ich das Kopieren als integrale Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts an. Nie war es jedoch so schwierig, etwas zu kopieren. Wir werden dafür kriminalisiert, dass wir Kultur lieben und teilen. Durch DRM und die Einschränkung des Urheberrechts werden innovative Impulse unterbunden." Dass die Zukunft aus dem Kompost der Vergangenheit wächst, demonstriert Doctorow in seiner Arbeit immer wieder durch offene, intertextuelle Bezüge zu Genreklassikern von Asimov bis Heinlein.
"Bücher verkaufen sich nicht wie Thunfischdosen"
Zugleich macht er aber deutlich, dass es ihm nicht um eine neohippieske Befreiung der Information geht: "An erster Stelle möchte ich so viele Bücher wie möglich verkaufen und steinreich werden! Und alles deutet darauf hin, dass man mehr Bücher mit einer Creative-Commons-Lizenz verkauft als ohne. Die Ära des Massenmarkts ist vorbei. Bücher verkaufen sich nicht wie Thunfischdosen. Heutzutage zielen sie auf sehr spezifische Gruppen von Lesern ab, und das Internet eignet sich sehr gut dafür, diese präzise zu erschließen."
Derweil bröckelt die industrielle Phalanx gegen den freien Informationszugang. Der Kopierschutz im Online-Musikhandel dürfte schon bald der Vergangenheit angehören. Und Doctorows Debütroman erscheint nun auch in Deutschland unter dem Titel "Backup" mit einer Creative-Commons-Lizenz auf Anfrage des Heyne Verlags beim Autor. Im Roman eröffnet sich eine Zukunft, in der das Bewusstsein abspeicherbar und in neue Körper herunterzuladen ist. Die großen sozialen Probleme der Menschheit sind überwunden, Krankheit und Tod abgeschafft. Statt nach Geld streben die Mitglieder der "Bitchun Society" nach Anerkennung durch Dienste für die Allgemeinheit, die zu ihrem virtuellen Beliebtheitspunktestand beitragen.
"Science Fiction handelt von Gegenwart"
In dieser utopischen und doch von Missgunst durchzogenen Gesellschaft spiegeln sich für Doctorow aktuelle Tendenzen wider: "Science Fiction handelt von der Gegenwart, nicht von der Zukunft. Bewusst und unbewusst habe ich beim Schreiben Elemente aus dem Wesen des Internets in den Roman übertragen." Dazu zählen Aspekte der Aufmerksamkeitsökonomie und das aus dem Ruder geratene Verhältnis von Angebot und Nachfrage angesichts der wuchernden Eigendynamik von Online-Daten.
Die deutsche Übersetzung des Romans steht nun auf der Internetseite des Verlags kostenlos zum Download bereit. Sorge, dass dies dem Absatz schadet, hat Doctorow nicht: "Anders als bei einer Musikdatei, die die CD sehr gut ersetzt, ist ein eBook nur ein schlechter Ersatz für ein richtiges Buch. Dafür ist es ein umso besseres Werbemittel, das mich nichts kostet."