Neue Bücher Geschichte einer gestohlenen Kindheit

Romanthema Pädophilie: "Nur ein Mädchen, das spielen will"
Foto: CorbisDie menschliche Seite eines Pädophilen: Margaux Fragosos "Tiger, Tiger"
Schon seine Publikationsgeschichte verleiht diesem Buch die Aura eines internationalen Ereignisses. "Tiger, Tiger" von Margaux Fragoso erscheint zeitgleich in 22 Ländern. Schon Tage vorher hat es heftige Diskussionen darum gegeben. "Tiger, Tiger" polarisiert: Es ist ein grauenhaftes Buch. Aber auf keinen Fall ein schlechtes.
Grauenhaft ist die Geschichte, die Fragoso erzählt - weil es ihre eigene ist. Die Autorin ist heute Anfang 30, Mutter einer Tochter, und "Tiger, Tiger" ist die Geschichte ihrer gestohlenen Kindheit. Der erste Satz des Vorworts reißt das Ausmaß des Schreckens nur an: "Ich begann, dieses Buch im Sommer nach dem Tod von Peter Curran zu schreiben, den ich mit sieben Jahren kennenlernte und mit dem ich fünfzehn Jahre eine Beziehung hatte, bis er im Alter von sechsundsechzig Selbstmord beging".
Margaux wächst in Union City in New Jersey auf. Der Vater ist ein Trinker und Aufschneider, die Mutter, schwer depressiv, sammelt schlechte Nachrichten in sogenannten "Faktenbüchern". Als Margaux Peter Curran und seine beiden Stiefsöhne kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu dem über 40 Jahre älteren Mann hingezogen, denn er hat etwas, das sie von zu Hause nicht kennt: "Er strahlte Glück aus." Peter lädt Margaux und ihre Mutter ein, und am Anfang "ist sie nur ein Mädchen, das mit ihm spielen will, ein Mädchen, das nie nach Hause gehen will, weil es lustig ist bei Peter, weil Peter genauso ist wie sie, nur größer, und Dinge kann, die sie nicht beherrscht."
Es dauert nicht lange, bis Curran das vernachlässigte Kind in eine emotionale Abhängigkeit bringt und die gemeinsam ausgedachte Traumwelt nach seinen Neigungen hin ausbauen kann. Es beginnt mit "Fischküssen", Rollenspielen und Abstechern in den Keller. Später schließen sich die beiden in Currans Zimmer ein, das im Laufe der Jahre zu einer Art Altar für das Mädchen wird, mit Fotos und Videos und ganzen Spiralblöcken voll mit "Liebesbriefen".
Das Verstörende ist nicht, dass sich das Mädchen auf die ungleiche Beziehung einlässt - sondern dass niemand eingreift. Auch später, als klar wird, dass Curran bereits vorbestraft ist und auf eine lange Vorgeschichte als Pädophiler zurückblickt.
"Tiger, Tiger" ist kein Buch, das man gern liest. Man hat Fragoso schon die naive Erzählhaltung vorgeworfen, denn abgesehen von Vor- und Nachwort bewertet sie die Erlebnisse nicht, sondern beschreibt sie wie eine große Rebellions- und Liebesgeschichte. Diese Distanzlosigkeit ist eine Stärke des Buches: Die Autorin schlüpft zurück in die Perspektive des kleinen Mädchens. Für Fragoso mag das ein therapeutischer Akt gewesen sein, für den Leser ist es kaum auszuhalten.
Erst im Nachwort spricht die Autorin: "Wenn Menschen von Pädophilen reden", zitiert sie den Psychiater Fred Berlin, "wollen sie ein Monster sehen". Peter Curran ist außer Frage ein Täter, aber auch ein Opfer, als Junge wurde er selbst missbraucht. "Es gibt keine Heilung für Menschen wie mich", sagt er einmal, kurze Zeit, bevor er sich das Leben nimmt. Vielleicht ist es das, was das Buch so ungeheuerlich macht: Es zeigt die menschliche Seite eines Pädophilen. Und macht "Tiger, Tiger" deshalb zur eindrücklichsten Warnung, ganz genau hinzusehen. Anne-Dore Krohn
Austrian Pyscho trifft Sprachmusiker: Die Erzählbände "Seerücken" von Peter Stamm und "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" von Clemens J. Setz
Zwei Paare, sie heißen Sarah und Felix, Alice und Niklaus, und so vertraut wie diese Namen sind auch ihre Leben, in denen von Alter bis Schicht alles mittel ist und mäßig erscheint. Richtig mies empfinden sie nur den Zustand ihrer Beziehungen. Die sind kinder- und perspektivlos, erstarrt. Mit dem Detail, dass beide Paare beim Sex aus dem Fenster schauen, wäre alles gesagt über die erotische Anziehungskraft. Wären sie Nachbarn, könnten sie sich bei ihrem Zeitvertreib wenigstens grüßen.
Wobei: Ein kopulierendes Ebenbild stimulierte sie kaum. Denn was die Paare richtig scharf macht, ist der Anblick von greifbar nahem Leid. So enden ihrer beider Geschichten in verstörenden Schlussbildern, die sich verblüffend ähneln - zwei Autoren, die ansonsten kaum mehr verbindet als der Umstand, gemeinsam auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse zu stehen, tauschen so gleichsam literarische Grüße aus: Peter Stamm und Clemens J. Setz.
Das Verstörende erscheint in Peter Stamms Buch "Seerücken" als ein selten unerhörter Moment im Lauf der Dinge, der Alice und Niklaus in der Geschichte "Lauf der Dinge" widerfährt. Während Stamms Paar die beschämende Obszönität im sexuellen Vollzug verdrängt, ist sie in Setz' "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" nur vorläufiger Höhepunkt eines Sex- und Gewalttrips aus der Beziehungslangeweile in die Entgrenzung, auf dem Sarah und Felix der monotonen Dramaturgie permanenter Steigerung folgen. "Die Blitzableiterin" (so der Titel der Story) ist so etwas wie ein "Austrian Psycho" in einem Vorort von Graz. Setz nennt die Erzählung sarkastisch zutreffend eine Éducation sentimentale und heizt mit cooler wissenschaftlicher Neugierde diese kleinbürgerliche Erziehungshölle nach den einschlägigen Regeln des Gewaltpornos kräftig auf.
So verstörend drastisch die Handlung auch sein mag und so dynamisch vorangetrieben sie ist, so wird im Verlauf der rund 50 Seiten doch deutlich, dass dem Erzähler wenig mehr bleibt, als die stupide Mechanik einer "Eskalation ordinär" (Werner Schwab, ein Grazer wie Setz) zu bedienen - und dabei erkennen zu geben, dass er nur die Variante eines Spiels erprobt, das man längst schon von irgendwoher kennt. Dieser Eindruck wiederholt sich bei fast jeder der 18 Erzählungen.
Die lautlose Enge der seltsam fahlen Räume, die nervöse Anspannung während des ziellosen Wartens, die Fokussierung des Störenden, Hässlichen, Schmutzigen, das plötzliche Aufbrechen der Gewalt und deren Bejahung: Jede Szenerie scheint von Bildern aus "Lost In Translation", "Benny's Video" oder "Fight Club" durchsetzt. Die Räume sind hermetisch und eng wie in Computerspielen und die Figuren gleichen zuweilen auf Neurosen programmierten Avataren, die unter dem permanenten Stress stehen, ihren Beobachter bloß nicht zu langweilen.
Dieser Autor will unterhalten werden - und probiert deshalb immer neue Spiele aus. Seine Lieblingsmethode ist simpel: Man setze etwas Fremdes ins Vertraute und schaue, was passiert. Seine Ideen sind verblüffend, bizarr, phantastisch. Ein Riesenrad als gigantische, futuristische Wohnsiedlung, eine von Wasser belebte Lehmskulptur, ein ekliges Etwas, das auf Visitenkarten wuchert.
Liest man nach den dichten Prosaexperimenten aus dem Setz'schen Literaturlabor die ersten Zeilen eine der zehn Erzählungen von Peter Stamm, wirkt es, als sei die Sprache ein Instrument, das befreit von der Last der dichten, drängenden Beschreibung zu klingen beginnt - und als ob die Klänge Räume zum Atmen schaffen, in denen sich Figuren bewegen können.
Es ist nicht so, als könne Stamm in seinen fast immer rund 20-seitigen Erzählungen komplette Charaktere erschaffen, es ist aber so, dass der Leser genau das denkt. "Seerücken" ist bereits sein vierter Erzählband, und es scheint so, als habe dieser Schweizer Autor in der kurzen Form die passende Länge für seine einfachen, melodischen und präzisen Sätze gefunden. Hört er ihnen nach, kann er von Dingen erzählen, die unbenennbar scheinen: Dann entdeckt er die Unbehaustheit des Waldes in der Unwirtlichkeit der Vorstädte. Oder die längst erloschene Liebe eines ausgebrannten Mittelstandspaares, die vom Leid der Nachbarn entfacht wird. Hans-Jost Weyandt