Die besten neuen Krimis Literatur-Oscar für den Nebendarsteller

Krimischauplatz Internat (hier im britischen Eton): Druck der Konformität
Foto: Christopher Furlong/ Getty ImagesTeenie-Mädchen als Meisterinnen der Manipulation: Tana Frenchs "Geheimer Ort"
"Geheimer Ort", so nennen die Schülerinnen des Elite-Internats St. Kilda die Pinnwand, an der sie ihre Sorgen und Hoffnungen loswerden, eine Art analoges und anonymes Facebook. Briefe, Zettel, Post-its, die von Liebeskummer und heimlichen Schwärmereien erzählen, von Heimweh und Neid - die Welt für die Mädchen, aber nicht weiter interessant für die Welt. Bis dort eine Karte mit dem Foto eines ermordeten Jungen und den Worten "Ich weiß, wer ihn getötet hat" gefunden wird.
"Geheimer Ort", so heißt auch der neue Kriminalroman der irischen Autorin Tana French. Es ist ihr fünfter, und wieder steht ein anderes Mitglied der Dubliner Polizei im Mittelpunkt: der junge, ehrgeizige Detective Stephen Moran, der in Frenchs "Sterbenskalt" eine Nebenrolle hatte und für den dieser Fall karriereentscheidend ist. Er will raus aus der Abteilung für ungelöste Fälle, rein ins Morddezernat. Wohin es Detective Antoinette Conway bereits geschafft hat. Allerdings gilt sie dort als Außenseiterin, auch weil sie über die sexistischen Späße ihrer Kollegen nicht lachen kann.
Die beiden Polizisten bekommen einen Tag Zeit, den Fall zu lösen, und schnell können sie den Kreis der Verdächtigen auf acht Mädchen aus zwei verfeindeten Cliquen eingrenzen. Doch in den folgenden Verhören entpuppen sich die Teenager als Meisterinnen der Manipulation, und die beiden Detectives drohen sich in dem Geflecht aus Lügen und Halbwahrheiten zu verlieren. Die Situation eskaliert, als sich ein weiterer Cop einmischt, der Moran und Conway unter Druck setzt, um seine Tochter zu schützen, die zu den möglichen Täterinnen gehört.
Seine Spannung bezieht "Geheimer Ort" vor allem aus der raffinierten Konstruktion - parallel zu den intensiven Verhörszenen enthüllt Tana French nach und nach, was in den Monaten vor dem Mord in St. Kilda geschah. So ist der Leser den Detectives meist einen Schritt voraus, während sie immer wieder in die Irre gelockt werden, aber auch, wenn sie nach und nach der Lösung näherkommen. "Geheimer Ort" funktioniert als Krimi so gut wie als hellsichtige Geschichte übers Erwachsenwerden, über Freundschaft und Liebe und Loyalität in Zeiten pubertärer Dauerkrisen. French nimmt ihre Figuren ernst und ist ganz weit weg vom Gefühlskitsch der "Twilight"-Romane oder dem Zynismus eines Bret Easton Ellis.
Frenchs anderes großes Thema in "Geheimer Ort" ist der Druck der Konformität. Der gesellschaftliche Zwang, sich anzupassen, mitzuspielen, kann extreme Reaktionen hervorrufen - bis zu Mord. French spiegelt ihr Thema vielfach, taucht tief ein in die Psyche von vier Mädchen, die versuchen, gegen alle Widerstände (Lehrer, Eltern, andere Schülerinnen, eigene Ängste) ihren eigenen Weg zu finden. Auch die beiden Ermittler sind, obwohl Könner in ihrem Job, Außenseiter. Doch während sich Conway in der Rolle der Einzelgängerin zu gefallen scheint, wünscht sich Moran nichts mehr, als endlich voranzukommen. Dass sich am Ende des langen Tages in St. Kilda diese Rollen fast vertauscht haben werden, gehört zu den vielen schönen Pointen dieses Romans. Marcus Müntefering

Tanja French
Geheimer Ort
Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
FISCHER Scherz; 704 Seiten; 14,99 Euro.

Drogen, Waffen und eine verschwundene Frau: Lauren Beukes' "Zoo City"
Gäbe es einen Literatur-Oscar für den besten Nebendarsteller in einem Roman - niemand sonst könnte ihn bekommen als das herzige Faultier aus Lauren Beukes' Roman "Zoo City", der in einer ansonsten kaltherzigen, dystopischen Alternativwelt spielt. In dieser Alternativwelt sind Verbrecher untrennbar mit einem Tier verbunden. Sie werden Zoos genannt. "Tatsache ist, wir sind alle Verbrecher. Mörder, Vergewaltiger, Junkies. Abschaum. In China erhält jeder Zoo die Todesstrafe, aus Prinzip. Weil nichts auf der Welt so laut "schuldig!" ruft wie ein Geister-Vieh an deiner Seite."
In Südafrika dürfen Zoos anders als in China weiterleben. Und weil besonders viele von ihnen in Johannesburgs runtergekommenen Stadtteil Hillbrow hausen, heißt dieser Bezirk nur noch: Zoo City. Zoo Citys Bewohnerin mit den trockensten Pointen und den schönsten Vintage-Kleidern ist Zinzi December, in deren Kleiderschrank dank einer kriminellen Karriere neben den Kleidern nun ein Faultier übernachtet. Außerdem hat ihr ihre Vergangenheit eine besondere Fähigkeit eingebracht: Sie kann verschwundene Dinge sehen.
Wie Silberfäden spinnen sich die Spuren durch die Stadt und führen sie zu Verlobungsringen in der Kanalisation und verlorenen Schlüsselbunden. Mit dieser Fähigkeit verdient sie ihr Geld. Sie sucht nach allem, was die Leute vermissen. Ausnahme: keine Drogen. Keine Waffen. Keine verschwundenen Personen. So sieht Zinzis rührend nutzlose Vorsichtsmaßnahme aus, sich nicht wieder in zwielichtige Geschichten verwickeln zu lassen.
Dieses Buch aber würde natürlich nicht funktionieren, wenn Zinzi nicht schon nach wenigen Seiten einen Job angenommen hätte, bei dem es um Drogen, Waffen und eine verschwundene Person geht - den weiblichen Teil eines erfolgreichen Pop-Duos. Und so sehr das übersensible Faultier auch mit den Augen rollt und grummelt und beleidigt ist, kann es nicht verhindern, dass Zinzi einem berüchtigten Musikproduzenten nachspürt, der mit dem Vermisstenfall zu tun haben scheint. Was Zoo City aber so besonders macht, ist nicht die kriminalistische Handlung, sondern seine Originalität.
Dieses Buch mit seiner großartig wilden Mischung aus Popkultur und Voodoo und magischem Realismus und Großstadtcoolness liest sich ein bisschen wie die erwachsene Alptraum-Version eines "Spex"-Redakteurs von Philip Pullmans "His Dark Materials"-Trilogie und hat Lauren Beukes in Südafrika und in der Science-Fiction-Szene zum Star gemacht. Beukes erhielt den dafür den renommierten Arthur C. Clarke Award, über den sich jeder Science-Fiction-Autor zugegebenermaßen mehr freuen wird als über einen Literatur-Oscar für den besten Nebendarsteller. Maren Keller

Lauren Beukes
Zoo City
Übersetzung von Judith Reker.
rororo; 368 Seiten; 14,99 Euro.

Rasante Dialoge: Stuart MacBrides "Das Knochenband"
Logan McRae war schon einmal tot. Klinisch tot, nach einer Messerattacke. Doch er kehrte zurück aus dem Schattenreich, und seitdem nennt man ihn Lazarus. Das ist die Ausgangssituation einer Reihe von in Großbritannien extrem erfolgreichen Kriminalromanen des schottischen Autors Stuart MacBride. Und nicht das einzig Ungewöhnliche daran: MacBrides Held ist kein genialischer und egozentrischer DI wie John Rebus, sein literarischer Kollege aus Edinburgh, kein von seinen Obsessionen geplagter Schmerzensmensch wie Jo Nesbøs Harry Hole und schon gar kein Schlauberger wie Sherlock Holmes.
Logan McRae ackerte sich als kleiner, strebsamer Detective Sergeant durch die ersten sieben Bände der Serie. Ein guter Polizist zwar, und nicht ohne Ambitionen, aber auch eine Art Wiedergänger von Woyzeck in der Gestalt eines traurigen Clowns. Ein Prügelknabe für seine Vorgesetzten mit komplett dysfunktionalem Privatleben.
"Das Knochenband" spielt zwei Jahre nach dem Vorgängerroman "Knochensplitter", an dessen Ende McRae schwer verletzt und obdachlos war. Inzwischen lebt er in einem Wohnwagen, seine Freundin liegt immer noch im Krankenhaus - und trotz seiner Beförderung ist er weiterhin der Willkür seiner egozentrischen Chefin Roberta Steel ausgesetzt. Unablässig und mit Vorliebe auch nach Feierabend per Mobiltelefon (Klingelton: das Darth-Vader-Thema aus "Star Wars") hält sie ihn auf Trab.
Diesmal soll McRae eine Reihe von Morden aufklären, die offenbar von einer besessenen Fantasy-Leserin begangen wurden. Deren Lieblingsbuchreihe "Witchfire" wird gerade in Aberdeen verfilmt, allerdings nicht völlig werkgetreu - wenn das kein erstklassiges Mordmotiv ist. Darüber hinaus bekommt es Logan mit einem Teenager zu tun, der im großen Stil Marihuana anbaut, mit einer überambitionierten Jungpolizistin, die ihm ständig in die Quere kommt, und mit Aberdeens alterndem Gangsterboss, der einen Narren an Logan gefressen hat und den aufrechten Polizisten nur zu gern auf die dunkle Seite der Macht ziehen würde.
Stuart MacBrides Romane sind selten kürzer als 500 Seiten, aber niemals zu lang. Weil seine Plots zwar genretypische Versatzstücke aufweisen - "originelle" Morde, prozedurale Elemente, Actionszenen -, aber völlig genreuntypisch erzählt sind. MacBride gehört zu den ganz wenigen Krimischriftstellern, die Spannung mit Komik verbinden, ohne dass das eine dem anderen im Weg steht. Sein Erzähler hält sich mit Erklärungen zurück, alles Ornamentale wird den rasanten, dem Leben abgeschauten Dialogen geopfert. Die sind gleichzeitig profan und profund, banal und bösartig - und MacBride überlässt es dem Leser, sich seinen Reim darauf zu machen. Zumal er auf Hinweise verzichtet, wer gerade spricht - eine literarische Technik, die höchste Ansprüche an die Präzision der Dialoge stellt. MacBride erfüllt diese Ansprüche, Andreas Jäger, der deutsche Übersetzer von "Knochenband", leider nicht durchgehend: Zu oft bügelt er Idiosynkrasien einfach glatt. Und dann wird aus einer gewollten und kontrollierten Konfusion das reine Chaos. Marcus Müntefering

Stuart MacBride
Das Knochenband
Übersetzung von Andreas Jäger.
Goldmann Verlag; 608 Seiten; 9,99 Euro.
