Neue Romane im Frühjahr Miss Missouri der Unterschicht

Die neuen Romane sind da! Wolfgang Schlüter erzählt von gebildeten Bummelanten zwischen Schöneberg und Kreuzberg, David Woodrell vom White Trash, und in Michael Stavarics "Brenntage" empfängt ein Waisenjunge Briefe aus dem Jenseits. Ein Blick auf die ersten Neuerscheinungen des Frühjahrs.
Miss Missouri blickt in den Spiegel - bei Daniel Woodrell würde ihr Horror entgegenschlagen

Miss Missouri blickt in den Spiegel - bei Daniel Woodrell würde ihr Horror entgegenschlagen

Foto: AP/Greg Harbaugh/Miss Universe L.P.

Schöngeistige 68er, haarscharf an der Armutsgrenze: Wolfgang Schlüters "Die englischen Schwestern"

Um die Berliner Verkehrsbetriebe ist es auch schon mal besser bestellt gewesen. Dass vor langer Zeit spekuliert werden konnte, das Rattern der durch die Stadt rasenden S-Bahnen habe Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929) seinen harten, schnellen Rhythmus verliehen, ist zwar immer noch faszinierend (für eine Auffassung von Stadt als dynamische Maschine), aber heute nicht mehr frei von nostalgischem Charme.

Als Taktgeber eines Großstadtporträts mögen die Stadtbahnen längst auf dem Metaphernabstellgleis stehen, doch wenn sie in Wolfgang Schlüters Roman über die maroden Schienen ruckeln, taugt ihr Rumpeln und Quietschen seiner Hauptfigur Werner immerhin als Impulsspender für Gedankenbummeleien, die lässig den Großraum Berlin überwinden, kühn und fast klaglos die klägliche Gegenwart hinter sich lassen und auf eine romantische Grand Tour gehen.

Mit den "beige-roten Schlangen", als die der Erzähler die BVG-Züge beschreibt, hat dieser Werner gemein, dass die guten Zeiten des sorglosen Dahinzockelns schon eine Weile zurückliegen. Im Gegensatz zu ihnen neigt er jedoch nicht zum Stillstand. Dieser bewegliche, bildungsbeflissene Geist ist ungefähr so alt wie der Autor (62 Jahre) und dürfte überhaupt so etwas wie ein kokett als akademischer Taugenichts getarntes Alter ego Schlüters sein. Er ist ein schöngeistiger 68er, der gefährlich nah an der Armutsgrenze entlangschrammt, zwischen den Künsten, englischem Spleen und italienischer Grandezza genauso selbstverständlich pendelt wie zwischen Schöneberg und Kreuzberg und unterwegs jedes Wortspiel, jeden Kalauer dankbar mitnimmt.

Wer beim Treppabgehen den Stufen ein vergnügtes "Duckobert-dag" ablauschen kann, der vermag auch Melodien zu wecken, die im Sperrmüll schlafen, doch was der große Schwadroneur Werner, der nichts mehr hasst, als ein Stimmenimitator genannt zu werden, eines langen Abends seinem Kumpel Georg auftischt, dürfte ein wahrhaft sensationeller Fund vom Straßenrand sein, wenn sie denn nicht eine grandiose Phantasterei wäre.

Ein Konvolut von Dokumenten, die ins 18. Jahrhundert, nach Italien, England, Böhmen, Nordamerika, ins Getümmel von Seeschlachten und in das Auge des Vulkans führen und dabei mit den Stimmen eines deutschen Landschaftsmalers, der unsterblichen Virtuosin Marianne Kirchgeßner, eines englischen Marinearztes und einiger anderer eine Zeit beschwören, die vom sphärischen Klang der Glasharmonika verzaubert war - einer Erfindung Benjamin Franklins, der gleichfalls zu Wort kommt.

Auch wenn der Fragmentcharakter der einzelnen Kapitel mit der romantischen Sehnsucht nach der Verlebendigung des Vergangenen spielt, so erinnert die Konstruktion doch eher an eine jener Preziosen, die zum Plaisir in den Wunderkammern des Barock ausgestellt wurden: Stufe für Stufe führen die Kapitel in die Vergangenheit, erreichen mit der Schilderung eines Vulkanausbruchs auf Island ihren Nullpunkt, um dann spiegelbildlich in die Gegenwart zu führen: einem Krater gleich oder einem Gläserkelch der Franklin'schen Glasharmonika, nach deren Tonleiter und -färbung die Kapitel obendrein benannt sind. Das Gebilde ist hübsch anzusehen, bricht aber nur dann nicht entzwei, wenn der romantische Zauber wirken kann - was ihm zuweilen verwehrt wird, weil Schlüters kunstfertige Redseligkeit kaum Atempausen kennt.

Und die "englischen Schwestern"? Sind Nichten Benjamin Franklins und als Nebenfiguren für den Roman nur insofern von großer Bedeutung, als dass sie ihm einen netten Titel verleihen - mit einem allegorischen Anklang. Nennen wir sie "Nostalgia and Pleasure". Hans-Jost Weyandt

Hinterwäldler, zu allem fähig: Daniel Woodrells "Winters Knochen"

"Verquer im Rachen der Zeit", um Durs Grünbeins bekanntestes Gedicht "Schädelbasislektion" zu zitieren, liegt nicht nur der knöcherne Titel dieses Romans, der in seiner Sperrigkeit direkt vom amerikanischen Original, hier heißt das Buch "Winter's Bone", übernommen ist - sondern auch die Geschichte, die Woodrell erzählt.

Angesiedelt im Grenzland zwischen Missouri und Arkansas, spielt sie zwar in der Gegenwart, in ihrer Struktur aber wirkt sie wie ein ins 21. Jahrhundert gehobenes mittelalterliches Epos, wie eine archaische Saga: Hier die junge Frau, als Miss Missouri der Unterschicht eine Art Jeanne d'Arc der Gegenwart, die sich zum Streitzug aufmacht; dort finstere Patriarchen, Krieger, Gesindel, böswillige Weiber.

Daniel Woodrell, bekannt geworden mit dem von Ang Lee verfilmten Roman "Wer mit dem Teufel reitet", erzählt in "Winters Knochen" von 16-jährigen Ree Dolly, ihren kaum erzogenen, halb zurück gebliebenen jüngeren Brüdern, ihrer weggetretenen Mutter. Der Mann ist verschwunden. Weil er das Haus für eine Gerichtskaution verpfändet hat, droht die Familie ihr Obdach zu verlieren - wenn Ree ihren Vater nicht binnen weniger Tage aufstöbert.

Bildungsfernes Milieu ist der Begriff für die Schicht, der Ree Dolly entstammt. Gewalt ist im Buch so alltäglich wie sexuelle Übergriffe und der Genuss harter Drogen - über allem steht ein seltsames Gesetz der Blutsbande, das die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Familie zu dem bestimmenden Merkmal erhebt, das ganze Lebensläufe prägt. Hinterwäldler, die zu allem fähig sind - auch, wenn es bei Woodrell nicht ausdrücklich um Pädophilie geht, könnte sich der Leser doch an den Missbrauchsskandal von Bates City erinnert fühlen.

Woodrell erliegt nicht der Versuchung, sich dem Slang des White Trash anzunähern, seine Sprache ist schlicht, manchmal allerdings auch irritierend gespreizt: "Little Arthur war die Miniaturausgabe eines Mannes großer Worte, und er hatte eine lange Vorgeschichte, die für die Pose bürgte."

Wie schon "Wer mit dem Teufel reitet" kommt auch "Winters Knochen" ins Kino - preisgekrönt beim Sundance Festival, gilt der Film nun als Geheimtipp für den Oscar - dann würde man Ree Dolly (gespielt von Jennifer Lawrence) vielleicht sogar in den Trailer Parks von Missouri wahrnehmen: Als eine große, gebrochene, unglückliche amerikanische Heldinnenfigur. Sebastian Hammelehle

Täglich Briefe aus dem Jenseits: Michael Stavarics "Brenntage"

Zu Beginn des dritten Kapitels von Michael Stavarics Roman "Brenntage" spekuliert der namenlose Ich-Erzähler darüber, schon vor Jahren die Seele verloren zu haben - und als Leser ertappt man sich dabei, ihm unbedingt beipflichten zu wollen. Erst 40 Seiten lang ist man seinem Geplapper zu diesem Zeitpunkt gefolgt, hat aber schon den Eindruck gewonnen, dass der Waisenjunge zu keinen menschlichen Gefühlsregungen in der Lage ist.

Wenn die Leute in seinem Dorf an den jährlichen Brenntagen ihren alten Plunder verfeuern, verbrennt er schon in jungem Alter seine Kuscheltiere, obwohl er sie eben noch für lebendig hielt. Später erzählt er, wie gerne er streunenden Kätzchen füttert, die er zärtlich "Pfotenschleicher" nennt, doch als sein Onkel eine vom Aussterben bedrohte Wildkatze erschießt, trägt er ohne zu zögern ihr Fell als Halstuch. Dass seine tote Mutter plötzlich beginnt, Briefe aus dem Jenseits zu schreiben, ist dem Jungen herzlich egal, zumindest erfahren wir weder, was in diesen Briefen steht, noch was sie mit ihm anstellen. Und als die Tante stirbt, die ihm eine Ersatzmutter war, ist sein einziger Gedanke, dies sei "kulinarischer Wahnsinn", weil fortan der Onkel kocht.

Nun macht ein kaltherziger Erzähler alleine noch kein laues Buch. Die Welt des Romans ist durchaus voller Geheimnisse und Reize: Ob es der düstere Wald ist, in dem Kinder ihre Kameraden nachts als Lebendköder für die Geister aussetzen; die nahen Minen, die Menschen in Abgründe locken und das Abgründige aus dem Menschen; oder die Flut, die einmal im Jahr durch das Dorf spült und fremdes Zuchtvieh gegen die Häuserwände wirft - Michael Stavaric gelingen archaische und verstörende Bilder einer heimischen Wildnis, die sich am parasitären Menschen rächt.

Doch diese Episoden bleiben Anekdoten, ohne echte Verbindungen zueinander oder zum Leben des Erzählers. So wie dieser ohne Seele, Persönlichkeit und Gefühlsregungen auskommen muss, bleibt auch das, was er im Laufe der langen 230 Seiten berichtet, äußerst fahl. Mit affektierter Sprache und in selbstreflexiver Distanz zu seinem eigenen Leben gibt der eitle Waisenjunge hier einen müden Schwank und da einen müden Schwank, führt nichts zu Ende, oder auch nur weit genug, das man als Leser Interesse daran fände. Hätte Michael Stavaric seine abgründige Welt mit Menschen bevölkert, die ihre Geschichten glaubwürdig erzählen können - "Brenntage" hätte ein lesenswertes Buch werden können. Oskar Piegsa

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