Neue Taschenbücher Auf der Suche nach dem großen Ganzen

Welt im Nebel (Symbolbild)
Foto: baona / iStockphoto / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Tom McCarthy: »Satin Island«
Ein Anthropologe, angestellt in einer Unternehmensberatung, soll eine allumfassende Gesellschaftsanalyse liefern: den großen Bericht.
Der Protagonist und damit auch der Roman verlieren sich in Gedanken über die Anthropologie, was sie kann und was nicht und wie sie funktioniert und was sie überhaupt bringt. Ganz nebenbei entstehen Fragmente einer Gesellschaftsanalyse, wenn Firmen als die neuen »Stämme« ausgemacht werden, mit ihren Bindungskräften, Glaubenssätzen, Riten und Mächten.
Preisabfragezeitpunkt
06.06.2023 18.26 Uhr
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»...meine ›offizielle‹ Funktion als firmeninterner Ethnograf darin bestand, Bedeutung aus Situationstypen zu generieren …erlaubte ich mir bisweilen den Gedanken, dass die Dinge in Wahrheit genau andersherum lagen: dass mein Job darin bestand, die Bedeutung in die Welt zu bringen und nicht, sie aus ihr zu gewinnen.«

Autor Tom McCarthy
Foto: Nicole Strasser / SuhrkampDa diese Aufgabe so groß war, dass letztlich alles und nichts darunter zu verstehen war, bleiben die Gedanken des Anthropologen hier und da hängen, verfangen sich in ungeklärten Todesfällen, Umweltkatastrophen oder eben in sich selbst. Das ist ein wirres Spektakel, erhellend und verwirrend zugleich.
Bolu Babalola: »Honey & Spice«
Wer die Serie »Dear White People« auf Netflix gesehen hat, wird sich unweigerlich erinnert fühlen: Eine Schwarze Studentin mit eigener Sendung im Uniradio behauptet sich an einer weißen Universität. In der Serie spricht die afroamerikanische Studentin Sam White zu ihren weißen Kommiliton:innen und prangert deren Rassismus an. Der Roman »Honey & Spice« spielt hingegen an einem College im ländlichen Südengland, und wie der Titel schon harmloser ist als der der Serie, so ist es auch die Erzählung. Studentin Kiki spricht in ihrer Sendung vor allem über Liebe und Beziehungen, Diskriminierung ist eher ein Randaspekt.
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Es ist ein leichter Roman, kein radikaler – was man beim Lesen einerseits bedauert, andererseits ist es auch angenehm, wie nonchalant die Autorin weißen Leser:innen einen mitgibt, wenn sie zum Beispiel über eine von Schwarzen Studierenden organisierte Party schreibt: »Das hier war nicht die Student Union Party für alle; wir mussten nicht prophylaktisch die Schultern straffen und die Augenbrauen hochziehen, weil bestimmte Leute, die daran gewöhnt waren, dass ihnen die Welt offenstand, die Einrichtung einer derartigen Schutzzone nicht nachvollziehen konnten; Leute, denen das »Nigga« ganz selbstverständlich über die Lippen kam, als würden sie das Wort nicht unwillkürlich auf »-er« enden lassen, sobald sie zu Kanye West mitrappten.«

Autorin Bolu Babalola
Foto: Steve Bealing / Landmark Media / IMAGOEs gibt eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, logisch. Soziale Medien spielen eine große Rolle, und die Heldin hat diverse schwierige Aufgaben zu lösen: ein Unterhaltungsroman im besten Sinne in interessantem Setting. Kann man mal lesen.
Matt Haig: »Die Mitternachtsbibliothek«
Kennen Sie das, Sie bedauern diese eine Entscheidung, die sie irgendwann mal getroffen haben und die Ihr Leben maßgeblich beeinflusst hat? Sie sind sich sicher, dass Sie glücklich, erfolgreich, erfüllt, schön und überhaupt perfekt wären, wenn Sie sich anders entschieden hätten? Nora Seed jedenfalls kennt das, und sie hat einen ganzen Haufen von Entscheidungen getroffen, die sie heute bereut. Anders als Sie hat Nora Seed die Möglichkeit, ihr Leben zu sehen, wie es gelaufen wäre, wenn Sie sich tatsächlich anders entschieden hätte. Und davon können Sie auch profitieren.
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Alles, wirklich alles ist vermurkst in Nora Seeds Leben, niemand braucht sie. »Die Mitternachtsbibliothek« startet knallhart, depressive Menschen sollten vorsichtig sein mit diesem Buch. Aber Nora Seed bekommt eben die Chance, sich ihr Leben noch mal anders anzuschauen – je nach Entscheidungen, die sie getroffen hat und die sie nun bereut. Es sind Zeitreisen in Zeiten, die es eigentlich nicht geben sollte. Und selbstverständlich ist das Leben nie vollkommen, wenn sie nur diese eine Entscheidung (mit der besten Freundin nach Australien gehen, den Boyfriend heiraten und so weiter) anders getroffen hätte, als sie es getan hat. Das ist natürlich megaspannend, das Buch zieht einen gut rein. Und: Perspektivwechsel gelten ja gemeinhin als gutes Mittel gegen große und kleine Missmutigkeiten – und dafür gibt dieses Buch gute Anregungen.
Laura Lippmann: »Das Gewissen des Mörders«
Wer ein Faible für verlotterte US-Städte und weibliche Ermittlerinnen hat, bekommt von Kampa ein hübsches Geschenk: Der dritte Band aus Laura Lippmanns Reihe über Privatdetektivin Tess Monaghan aus Baltimore. Die Reihe entstand in den Neunziger- bis Nullerjahren – in ihr wird die Kultserie »The Wire« noch gedreht (aber nur am Rande erwähnt).
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06.06.2023 18.26 Uhr
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Tess ist eigentlich Journalistin, ihre Zeitung hat aber Pleite gemacht, und sie schlägt sich mehr schlecht als recht als Privatdetektivin durch. Zu ihr kommen manchmal Menschen, die andere Menschen suchen – in diesem Fall ein Mann, der einst ein Kind erschossen hat, weil es sich danebenbenommen hat. Der Mann hat nun ein schlechtes Gewissen oder gibt zumindest vor, eines zu haben. »Sie hatte Leute wie Beale schon häufiger getroffen. Sie waren wie diese kleinen Züge im Zoo oder im Einkaufszentrum, sie fuhren einfach den ganzen Tag auf derselben Spur im Kreis.«
Solche Betrachtungen machen die Lektüre zum Vergnügen. Die Tatsache, dass noch immer auf Kinder geschossen wird in den USA, wenn sie zum Beispiel an der falschen Tür klingeln, macht sie leider auch 25 Jahre nach der Ersterscheinung noch aktuell.
Daniel Schreiber: »Allein«
Dies war wohl einer der wichtigsten deutschen Texte, die während der Pandemie erschienen sind. Er ist Essay, Erinnerung, gesellschaftliche Analyse, philosophische Betrachtung und literarische Erzählung in einem und behandelt das, was vermutlich jeden Menschen irgendwann mal umtreibt: Wie viel Alleinsein lässt sich aushalten? Und wie viel Alleinsein kann schön sein?
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06.06.2023 18.26 Uhr
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Es ist ein Plädoyer für das Leben und die Freundschaft, es macht Mut, und beim Lesen fühlt man sich gesehen – was vielleicht das größte Geschenk ist, das Lektüre zu geben hat.