Neues Kurzeck-Hörbuch Als wäre es das Dringlichste der Welt

Der große Schriftsteller Peter Kurzeck hat eine neue Erzählung aufgenommen: "Da fährt mein Zug" heißt sie und entwirft ein ganzes Universum, obwohl sie nur von einem vergessenen Koffer handelt.
Von Christoph Schröder
Kurzeck-Hörbuch: Abenteuer und eine Geschichte, die die Welt neu zusammensetzt

Kurzeck-Hörbuch: Abenteuer und eine Geschichte, die die Welt neu zusammensetzt

Foto: supposé

Peter Kurzeck ist ein Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das mag man über viele Schriftsteller behaupten, aber kein anderer ist in der Lage, aus dem Nichts heraus, aus dem, was uns permanent begegnet, ohne dass wir es überhaupt zur Kenntnis nähmen, einen ganzen Kosmos zu erschaffen. Wenn Kurzeck die Welt beschreibt, verzaubert er sie dadurch. Und es ist nicht wichtig, ob das, was er erzählt, tatsächlich einer Überprüfung auf einen realistischen Gehalt standhält. Wichtig ist das Erzählen selbst. Es ist möglicherweise ein Irrtum, zu behaupten, Kurzeck sei ein großer und genauer Chronist des Alltags und der kleinen Dinge. Vielmehr, so scheint es manchmal, hat er sich und uns ein ganzes Universum erfunden, das in Ton und Perspektive so einzigartig wie unverwechselbar ist.

Es ist nur konsequent, dass Peter Kurzeck eine Form des Erzählens entwickelt hat, die an die lange literarische Tradition des Mündlichen anknüpft und sie dennoch ganz neu entwirft. Mit dem knapp fünfstündigen Hörbuch "Ein Sommer, der bleibt" hat Peter Kurzeck, 1943 in Böhmen geboren und aufgewachsen im Oberhessischen, ein unglaublich schönes Dokument der Erinnerung an seinen Kindheitsort Staufenberg bei Gießen in die Welt gesetzt: Eine frei gesprochene, von keinem Manuskript abgelesene, vor Detailreichtum und Poesie nur so strotzende Aufführung, die den Verdacht aufkommen lässt, dass Peter Kurzeck immer das staunende Kind geblieben ist, das da sehr langsam durch die Welt gehen und alles ganz genau betrachten muss, und zwar immer wieder und immer wieder aufs Neue mit einer gewissen Fassungslosigkeit gegenüber den Dingen, die ihm begegnen.

Von Kurzeck kommt man nicht mehr los

Und selbstverständlich kämpft Kurzeck mit seiner Suada auch gegen das Verschwinden an, gegen die gefräßige Zerstörungsmaschinerie der Zivilisation, in der nicht nur die Schönheit der Welt, sondern mit ihr auch die eigene Biografie und Identität zermahlen wird. "Ein Sommer, der bleibt" wurde zum Hörbuch des Jahres 2008 gekürt, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, das Peter Kurzecks Tonfall so unverwechselbar und einprägsam ist mit den staunenden Hebungen am Satzende und der charakteristischen Melodie. "Eine Welt ohne Kurzeck ist, nachdem man ihn kennt, nicht mehr denkbar. Die Welt bekommt seinen Ton", schrieb der Schriftsteller Andreas Maier.

Nun ist in diesen Tagen ein neues Hörbuch erschienen: "Da fährt mein Zug", ein rund 60 Minuten langes, erneut frei erzähltes und nur behutsam geschnittenes Stück, in dem Kurzeck, der im südfranzösischen Uzès lebt, von einer Reise erzählt, die er regelmäßig unternimmt - einer Zugfahrt von Straßburg nach Avignon, von wo aus es dann weiter zu seinem Wohnort gehen soll. "Damals war es so, dass es einen Nachtzug gab", so lautet der erste Satz, der alles, was folgt, sofort aus dem Licht der Gegenwart rückt. Später erfährt man, dass es sich um einen Zeitpunkt vor 1994 handeln muss. In diesem Jahr wurden in Frankreich wegen der Terrorismusgefahr die Schließfächer auf den Bahnhöfen abgeschafft. Wichtig für die Erzählung ist das nicht. Wichtig ist auch nicht, ob es überhaupt stimmt.

Die Welt wird neu zusammengesetzt

Was Peter Kurzeck erzählt, ist nicht allzu spektakulär: Er kommt in Straßburg an, hat wie immer viel Zeit zum Umsteigen, läuft durch die Stadt, geht zum Bahnhof, verstaut sein Gepäck im Zug, tritt noch einmal auf den Bahnsteig und sieht kurz darauf den Zug ohne ihn, aber mit seinem Koffer und seinem neuen Kaschmirmantel davonfahren. Mit einem Taxi fährt er dem Zug bis zur nächsten Station hinterher, rettet seine Habseligkeiten, fährt nach Straßburg zurück, übernachtet dort und setzt am nächsten Morgen seine Fahrt fort. In der literarisch-mündlichen Ausgestaltung werden daraus ein Abenteuer und eine Geschichte, die die Welt neu zusammensetzen.

Die Zeit dehnt sich bei Kurzeck auf eine verträumte Weise ins Unendliche, sie steht in keinem Verhältnis zu Fahrplänen und anderen Festlegungen. Geradezu quälend ist der Versuch des Erzählers, auf den fahrenden Zug zu springen, dessen Türen sich langsam schließen, um Koffer, Mantel, Manuskripte und alles andere nicht allein abfahren lassen zu müssen. "Man merkt erst bei einer solchen Gelegenheit, wie lang Bahnsteige sind." Solch wunderbare Sätze kommen spontan aus Peter Kurzeck heraus; ein anderer wäre: "Es ist ganz schwer, einen Vertrauen erweckenden Eindruck zu machen, wenn die Nase blutet." Vor allem aber lebt "Da fährt mein Zug" von der Atmosphäre, die Peter Kurzeck, es gibt kein anderes Wort dafür: herbeizaubert; von der Strahlkraft, die er in die dunkle Nacht, in der es irgendwann auch noch zu schneien beginnt, hineinsetzt; von den Epiphanien im Profanen.

Hinter alldem steht, das darf man nie vergessen, eine existentielle Dringlichkeit: "Man muss", so sagt Kurzeck an einer Stelle, "solche Geschichten erzählen, sonst hält man es nicht aus". Das ist ein zentraler Satz, der die Kurzeck'sche Ästhetik auf den Punkt bringt: Literatur als Überlebensnotwendigkeit.

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