Nobelpreisträger Le Clézio In fünfzig Texten um die Welt

Warum die Kritik? Jean-Marie Gustave Le Clézio hat den Nobelpreis verdient. Der literarische Ethnologe widmet sich mit präzise gezeichneten Figuren dem großen Thema unserer Zeit: der menschlichen Identität in einer postkolonialen Welt.
Von Beate Thill

Für die Deutschen, die ihn nicht kennen: Jean-Marie Gustave Le Clézio wäre als der französische Bruce Chatwin zu bezeichnen, jenes luziden britischen Erzählers, der einem Weltpublikum das entlegene Patagonien oder die Weiten Australiens nahebrachte. In Frankreich ist Le Clézio als Bestsellerautor hochberühmt und geschätzt - weil er ein Reisender ist.

London, Mexiko und Mauritius waren wichtige Stationen im Leben des Autors. 1940 in Nizza geboren, zog er im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Nigeria, wo sein Vater während des Zweiten Weltkrieges als Arzt arbeitete. Seine politische Jugend stand später ganz im Schatten des Algerienkrieges. Über fünfzig Bücher, Erzählungen, Romane und Essays hat Le Clézio über Menschen in aller Welt geschrieben.

Le Clézio begann seine Schriftstellerlaufbahn mit der Avantgarde des Nouveau Roman, jener experimentellen Strömung, die sich im Frankreich der fünfziger Jahre herausbildete, und die mit einem nüchternen, quasi-objektiven Blick die Welt beschrieb, statt sie zu deuten.

Mit dem Blick des Ethnologen

Wie viele seiner Generation engagierte er sich gegen den Kolonialismus. Eine weitere, ungleich treffendere Formel wäre deshalb Le Clézio, der Internationalist. Seine Werke zeichneten sich schon früh dadurch aus, dass sie gängige politische Muster durchbrachen und er eine streng subjektive Form wählte. So sieht in seinem Roman mit dem Titel "Wüste" ein junges Mädchen, das in einem Slum lebt, in traumähnlichen Szenen eine Karawane in der Sahara. Sie ist eine Nachfahrin der Touareg, eines Beduinenstammes, der von der französischen Kolonialmacht aus der Wüste vertrieben wurde.

Was schon hier angelegt war, entfaltete Le Clézio während eines Lehraufenthaltes in Mexiko City zu einem Hauptmerkmal seines literarischen Schaffens: Er wurde zum Experten für die Ureinwohner des Landes - und damit zu einem literarischen Ethnologen.

Sein fundierter Blick richtete sich mit anthropologischer Präzision auf die Lebensumstände seiner Figuren und macht ihn so bis heute unangreifbar gegen den Vorwurf, folkloristisch-naive Weltenbummlerprosa zu verfassen.

Eben jene Berufung, die des Ethnologen, verleiht ihm seine besondere literarische Relevanz.

Denn Le Clézio will mehr, als Verständnis für Menschen anderer Kulturen zu wecken. Er zeigt, ohne biografische, kulturelle oder politische Brüche zuzudecken, menschliche Gemeinsamkeiten über alle physischen und psychischen Grenzen hinweg auf und begibt sich auf die Suche nach einer menschlichen Konstante in einer materialistischen Welt.

Sein (Lebens-)Thema sind die Brüche im Lebensweg, die Identitäten, die in einer Person nebeneinander bestehen können - und daher ist Migration eines seiner wichtigsten Themen.

Vor allem der stark biografisch geprägte Roman "Revolutionen" (2006) fasst diese zentralen Themen seines Werkes - und seines Lebens - noch einmal zusammen: Gedächtnis, jugendlicher Aufbruch, Exil, der Zusammenprall und die Vermischung der Kulturen.

In einer vielgelobten biografischen Etüde über seinen Vater, 2007 in Deutschland erschienen, hebt der Autor sogar die Unterscheidung zwischen Kolonisator und Kolonisiertem auf, indem er das Buch als "Der Afrikaner" betitelt.

Die Idee, dass Weiße und Schwarze eine gemeinsame Geschichte haben, nämlich die Geschichte der Apartheid, ist in Frankreich ein aufgrund der Kolonialvergangenheit des Landes vieldiskutiertes Thema. In Deutschland mag es in der breiten Öffentlichkeit noch auf Unverständnis stoßen.

Diese literarische Verarbeitung moderner Identitätskonflikte rechtfertigt die Entscheidung des Nobelpreiskomitees, Jean-Marie Gustave Le Clézio den höchsten Literaturpreis zuzuerkennen.

Denn seine Bücher beschreiben Menschen, die überall und nirgends zu Hause und bereit sind, sich durch die Erfahrung des Fremden zu verändern. Diesen Menschen errichtet er in seinem letzten Buch über die Südsee-Insulaner ein Denkmal. Es wird diesen Herbst unter dem Titel "Raga - Besuch auf einem unsichtbaren Kontinent" auf Deutsch erscheinen.

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