Vor-Trump-Ära, Klimawandel und Flüchtlingskrise: Auf diesem Nährboden lässt Norbert Gstrein in "Die kommenden Jahre" eine Ehe zerfließen. Und drischt auf die Doppelmoral unserer Gesellschaft ein.
Das Tempo von Gletschern ist zäh. Mal 30 Meter, mal sieben Kilometer im Jahr, auf alle Fälle unbeirrbar und stockend. Und weit kommen sie. In manchen Gegenden liegen Findlinge herum, ausgestreut wie Hagelzucker, ein Brocken aus Nordfinnland, daneben einer aus Mittelschweden, einer 480 Millionen, der andere 1,7 Milliarden Jahre alt. Tonnenschwere Moränenreste, übersät mit Schrunden und Schrammen, Spuren von ihrem Weg durch die Welt.
Es sind Geschichtsbrocken, die Zeit und Raum komprimieren: In "Die kommenden Jahre" setzt Norbert Gstrein als Erzähler einen Glaziologen ein, der diesem "aus Schichten und Schichten von gefrorenem und zusammengepresstem Schnee" nachforscht, dieser "vieltausendjährigen Stille".
Und es scheint, als habe Gstrein mit diesem Richard endlich eine Figur gefunden, die zum Wesen seiner wunderbar eigenen Sprache passt, diesen Sätzen, die sich auch dieses Mal über die Seiten ziehen wie tauendes Eis. Und eine, die verkörpert, was all seine Protagonisten verbindet, deren Lebenssinn darin besteht, verschütteten Zeiten nachzuspüren.
Das Sommerhaus für eine Flüchtlingsfamilie
Nun also Richard, der in New York ist auf einer Konferenz, um einen Vortrag zu halten. Er hat sich breitschlagen lassen von seinem alten Kollegenfreund Tim. Im Anschluss wollen sie noch ein paar Tage nach Kanada, an den Sankt-Lorenz-Strom. Es ist aus dieser Distanz, in der er sein Leben zu Hause in Hamburg erzählt, vom vergangenen Jahr mit seiner Frau Natascha, einer Schriftstellerin, der gemeinsamen Tochter - und der Familie Farhi aus Damaskus, der sie ihr Sommerhaus auf dem Land, eine Stunde außerhalb der Stadt, überlassen haben.
Autor Gstrein
Foto: Gustav Eckart
Indem Gstrein, als gebürtiger Tiroler selbst den Eiszeiten nah, diese Gletscherforscher-Geschichte verortet im Frühling, bevor Trump Präsident wurde, in der Zeit, in der viele in Deutschland sich für Geflüchtete engagierten und andere dagegen protestieren, in einer Ära, in der es auf einmal normal wurde, den Klimawandel zu leugnen, schafft er einen aktuellen Nährboden. Schmelzende Polkappen, Klimaflüchtlinge, Fakten gegen Gerüchte: All das gedeiht in dieser Story ganz zwangsläufig ineinander verflochten, ohne dass es aufdringlich wirkt.
Schaut man sich das Oeuvre des Mittfünzigers an, ist unübersehbar: Seine Erzähler starten immer aus der Distanz. Egal ob "In der freien Welt" über den Gaza-Krieg, "Das Handwerk des Tötens" über einen Kriegsreporter, der aus dem zerfallenden Jugoslawien berichtete, "Die Winter im Süden" über eine Vater-Tochter-Beziehung und den Krieg, der alles zerrüttete: alles Geschichten über Menschen, die sich auf die Suche begeben. Und losziehen, um jenen nachzuspüren, die sie früher kannten, die tot sind, die Jahrzehnte von ganzen Ozeanen getrennt lebten oder alles auf einmal.
Eine Ehe voller Schrammen
Bei Richard ist es seine Frau, ach was, seine ganze Ehe, die er von der anderen Seite des Atlantiks aus auf einmal in den Blick nimmt. Und in der er ganz tiefe Schrammen entdeckt, die die Zeit in ihrer zähen Vorwärtsbewegung eingeschürft hat.
Es ist, als ob er nun weiter nach vorne denkt, auf die "kommenden Jahre", und mit großer Klarheit sieht, was sich drüben in Hamburg verschoben hatte. Was untergegangen war vor lauter Besuchen bei den Farhis im Sommerhaus, vor lauter Sorge wegen der Gerüchte und Drohgebärden, die an die geflüchteten Syrer aus dem Dorf heranschwappte.
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Richard sieht seine Natascha, und sie ist ihm fremd, ja "abstoßend". Weil sie, dieses "blonde Monster der Moral", ihre Hilfe von Fernsehteams dokumentieren lässt, sie in einer Zeitungskolumne ausstellt. Er hatte "nicht die beste Meinung von denen, die sich beim Helfen und beim Gutsein zusehen ließen", sinniert Richard. Ihm geht "diese unmittelbare journalistische Bewirtschaftung, diese schriftstellerische Nutzbarmachung um jeden Preis gegen den Strich".
Warnung vor der eigenen Doppelmoral
Damit kommentiert Gstrein auf genial subtile Weise seine eigene Position gleich mit: Er, der als Autor dieses Thema ins Zentrum seines Romans stellt, weiß, dass der Grat schmal ist zum Trittbrettfahrersein.
Und somit ist "Die kommenden Jahre" auch eine Warnung vor der eigenen Doppelmoral. Gerade weil diese unsere Gesellschaft gerade lernt, zusammen mit den Geflüchteten zu navigieren zwischen Hilfe und Hilfe zur Selbsthilfe - und der Enttäuschung, wenn diese Hilfe nicht so gewürdigt wird, wie man's dann also doch ganz gern hätte.
Es ist, als ob Gstrein uns als Gesellschaft Richard wie ein Negativ-Denkmal hinstellt: Der ist ein Feigling erster Güte. Es ist außerordentlich, wie er Richards Persönlichkeit in der Buchdramaturgie spiegelt: Den dritten Romanteil multipliziert er und schaltet mehrere "Dreizehnte Kapitel" hintereinander, jeweils mit anderem Ausgang.
Denn sein Erzähler ist keiner, der Entscheidungen vom Zaun bricht. Er ist einer, der sich seine Optionen offen hält. Der lieber nichts ausspricht. Um sich nicht festlegen zu müssen. Und somit auch nicht Stellung zu beziehen. Eine Hasenfüßigkeit, die nicht fürs Leben taugt. Denn das ist schneller als jeder Gletscher.