Ost-Literaten Republikflucht der Romanciers

Die ostdeutschen Schriftsteller Uwe Tellkamp und Christoph Hein erzählen in ihren neuen Büchern Geschichten von Terror, Zweifel und Liebe. Aus den Romanen "Der Eisvogel" und "In seiner frühen Kindheit ein Garten" spricht eine tiefe Skepsis über die Verfassung und gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik.
Von Claus Christian Malzahn

Im Sommer vergangenen Jahres diskutierte in Potsdam der Publizist Peter Bender mit dem Historiker Manfred Görtemakers darüber, ob die Existenz der DDR in der deutschen Geschichte als Episode oder Epoche zu betrachten sei. Artig wurden Argumente wie Sonntagskekse über den Tisch gereicht. Die naheliegende Frage, warum die DDR eigentlich mehr gewesen sein soll als eine 41-jährige Außenstelle der UdSSR auf deutschem Boden, wagte hier niemand zu stellen.

Dann aber wurde es doch noch spannend. Denn die Fragestellung der Veranstalter implizierte ja, dass man der Bundesrepublik ewiges Leben zubilligte. Jedenfalls stand die gute alte BRD nicht im Verdacht, nur eine Episode in der deutschen Geschichte zu sein. "Wieso eigentlich?", fragte ein schlanker älterer Herr im Publikum. Dass die DDR der falsche Staat gewesen sei, wisse man ja inzwischen. Aber wieso sei man sich so sicher, dass die Bundesrepublik der richtige sei und nicht ebenfalls irgendwann implodiere?

Der Mann, der diese Frage in den Raum warf, war kein geringerer als der DDR-Bürgerrechtler Jens Reich. Die von ihm an diesem lauen Juniabend in Potsdam verbreitete Skepsis scheint sich bei immer mehr Ostdeutschen zu finden. Sie haben in ihrem Leben einmal die Erfahrung eines Staatsbankrotts gemacht, und selbst wenn sie - wie Reich - gern und viel zum Untergang der DDR beitrugen, so sind sie sich doch nicht sicher, ob die Republik, die sie bekommen haben, eigentlich die ist, die sie sich im Herbst 1989 wünschten. Bärbel Bohley hat das einmal sehr pathetisch in dem Satz formuliert, dass man Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen habe.

Abrechnung mit der Demokratie

Die Skepsis gegenüber der bundesrepublikanischen Ordnung greift vor allem im Osten um sich. Die Wahl der offen staatsfeindlichen Parteien DVU und NPD in die Landtage von Brandenburg und Sachsen sind dafür nur der offenkundigste Beleg. Auch immer mehr Intellektuelle scheinen auf Distanz zur Republik zu gehen.

Interessanterweise äußert sich diese Skepsis in Büchern, die um das schaurig-schöne Thema Terrorismus kreisen. Uwe Tellkamps Roman "Der Eisvogel" ist der bisher frontalste literarische Angriff auf eine demokratische deutsche Verfassung, seit Ernst Jünger 1932 mit seinem Buch "Der Arbeiter" ein Werk vorlegte, in dem die fragile Ordnung seiner Zeit beiseite gefegt und die Fundamente einer neuen Gesellschaft gelegt werden sollen. Bis heute streiten die Gelehrten darüber, ob Jünger damit dem Nationalsozialismus intellektuelle Schützenhilfe gab.

Auch Tellkamps Roman ist eine Abrechnung mit der Demokratie. Sein Held, Wiggo Ritter, hält Ausschau nach neuen Ufern. Im "Eisvogel" sucht der arbeitslose Philosoph nach einer sinnvollen Beschäftigung im Deutschland der neunziger Jahre. Der Hochbegabte scheitert am Arbeitsmarkt und wärmt sich dann an Sätzen wie "Demokratische Verhältnisse sind Arrangements zum maximalen gegenseitigen Nutzen des Mittelmäßigen".

Schließlich landet er, auch einer schönen Frau wegen, in einer reaktionären Loge, in der man vom Ständestaat träumt; von der Herrschaft des Geistes über den Pöbel. Doch die deutsche Elite, die Tellkamp in seinem Buch als "Organisation Wiedergeburt" bezeichnet - ein dröhnender Kapitalist, ein säuselnder Bischof und eine gelangweilte Aristokratin - scheinen eher einer unfertigen Karikatur von George Grosz als der deutschen Gegenwart zu entspringen. Über diesen Mangel an Lebendigkeit und Überzeugungskraft einzelner Gestalten würde man gerne hinweglesen, wenn der Standort des Autors nicht so nebulös bliebe. Was will der Autor eigentlich? Tellkamp predigt über dem Abgrund.

Striktes Ironieverbot

In seiner Geschichte über Terror, Liebe und Übermenschen herrscht striktes Ironieverbot. Keiner der Protagonisten wagt hier auf 318 Seiten einen Witz - als drohe auf Humor das Standgericht. Damit wendet sich der Autor auch in der Form gegen den verderblichen Einfluss aus Übersee, wo Ironie in der Literatur zum guten Ton gehört und nach den "Korrekturen" von Jonathan Franzen nun ein phantastischer Familienroman nach dem anderen erscheint. Wiggo/Tellkamp aber sagt: "Die meisten Amerikaner, die ich kenne, schreiben ordentliche, völlig überflüssige Bücher, Fertigware von der Stange, Bücher, von denen es leider wimmelt und die ich, verzeihen Sie den Ausdruck, zum Kotzen finde." Da ist er wieder, der beleidigte deutsche Hochmut vor der neuen Welt.

Tellkamps Roman ist streckenweise blendend formuliert, obwohl die konkurrierenden Erzählstränge sich vor allem zum Ende hin wie Schlingpflanzen um den Leser legen. Nach 100 Seiten freilich riecht es erst nach Zigarre, dann nach Pulverdampf. "Man muss etwas tun, sagt Mauritz, diese Gesellschaft ist krank vom Geschwätz, das ist ein Kalkmassiv, wir müssen es aufsprengen, es zerstören", heißt es da beispielsweise. Und derselbe Mauritz - der am liebsten das KaDeWe in die Luft sprengen möchte, sagt weiter: "Wach auf, es gibt keine Windstille mehr, ...bald wird es Sturm geben, Wiggo, die Dämonen sind wieder erwacht, die lange schliefen, gefroren im Eis des kalten Krieges."

Mauritz, der Chef der rechten Truppe, wird schließlich von Wiggo erschossen. Zuvor hat dieser intellektuelle Terrorist einem Skinhead, der Ausländer in der U-Bahn bedrohte, den kahlen Schädel zertrümmert. Ein edler Held soll hier gezeichnet werden, der mit dem glatzköpfigen Pöbel nichts gemein und höhere Ziele im Sinn hat. Hier wünscht sich ein Autor in die deutsche Romantik zurück, in eine gute, spottfreie Zeitzone, bei der ein Heinrich Heine freilich draußen vor den Salontüren bleiben müsste. Tellkamps Eisvogel ist ein unangenehmes Buch, das aber zu gut geschrieben ist, um es rechts liegen zu lassen.

Die Wirklichkeit ist dramatischer

Auch Christoph Hein möchte uns in seinem neuen Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" darauf aufmerksam machen, dass etwas faul ist im deutschen Staate, und wählt als Sujet den Terrorismus. Seine Geschichte über einen Vater, der seinen Sohn an den Linksterrorismus verliert und der schließlich unter mysteriösen Umständen auf einem Bahnhof in Mecklenburg von einem Spezialkommando der Polizei erschossen wird, soll natürlich die literarische Verarbeitung der Biografie des RAF-Aktivisten Wolfgang Grams sein, der in Bad Kleinen in einem Feuergefecht mit der Polizei ums Leben kam.

Generalbundesanwalt Alexander von Stahl musste damals zurücktreten, weil Zeugen erklärt hatten, Grams sei vom SEK faktisch hingerichtet worden. Die These vom staatlichen Mord ließ sich aber nie beweisen. Das Bonner Landgericht stellte 1998 gleichwohl fest, dass es weder für eine Fremdtötung noch für einen Selbstmord überzeugende Beweise gebe: Zweifel an der zunächst auch per staatlichem Gutachten gestützten Version, Grams habe sich selbst mit einem Kopfschuss getötet, sind geblieben.

Die Geschichte vom Leben und Sterben des Wolfgang Grams wäre deshalb tatsächlich ein interessanter Stoff für eine Novelle. Leider aber ist die Wirklichkeit viel dramatischer als jene Geschichte, die uns Hein in seinem Roman mit didaktischem Eifer präsentiert. Der ostdeutsche Schriftsteller wollte offenbar vor allem beweisen, dass auch in der BRD, deren Bürger er seit 15 Jahren ist, staatliche Willkür herrscht und Gerechtigkeit und Rechtsstaat zwei ganz verschiedene Angelegenheiten sind.

Fakten nur wenn sie passen

Im Roman scheitert der Vater des Terroristen mit seinen Versuchen, die Wahrheit herauszufinden, weil die Behörden mauern, vertuschen, verzögern. Am Ende bleibt ein Verdacht - und ein desillusionierter Bildungsbürger, in dem manche Kritiker gar einen Widergänger von Michael Kohlhaas erblickten. Das Problem: Mal hält sich Hein an die Fakten, aber wenn sie ihm bei seiner These im Weg stehen, fängt er an zu fabulieren.

So ist Grams Vater kein braver Gymnasialdirektor, der von der Wirklichkeit in die Rolle des Querulanten gezwängt wird, wie Hein ihn in seinem Roman zeichnet. Der Terrorist Wolfgang Grams stammt nicht aus einem Bildungsbürgerhaushalt, sondern aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg Mitglied der SS gewesen. Möglicherweise war diese familiäre Disposition für Grams einer von vielen Gründen, zur RAF zu stoßen - er wäre nicht der erste Deutsche, der an der Vergangenheit seiner Eltern litt und den Weg in den Untergrund wählte.

Der Film "Black Box BRD" von Andres Veiel erzählt parallel die Lebensgeschichte von Grams und dem RAF-Opfer Alfred Herrhausen und schildert, wie Grams in den siebziger Jahren gegen Elternhaus und "Konsumterror" rebelliert und nach einer halbjährigen Haft schließlich im Untergrund verschwindet. Zu seinem Vater, dem Ex-SS-Mann, scheint der Linksterrorist kein enges Verhältnis gehabt zu haben. Interessanterweise fanden Vater und Sohn Grams doch noch zueinander - und zwar in der Illegalität des Untergrunds. Ab und zu tauchte Grams mit seiner Freundin Birgit Hogefeld auf, um sich mit den Eltern im Niemandsland zu treffen. In der gruseligsten Szene des Films ist ein Vater zu sehen, der seinen Sohn und dessen Schweigen über das, was er plant und getan hat, total versteht. Im Krieg war es ja nicht viel anders.

Dieser Frieden der Generationen über den Gräbern und auf Kosten der Opfer hat Hein nicht interessiert. Offenbar hat er dieses Phänomen gar nicht bemerkt. Seine These ist klar: Der Staat hat einen Mord vertuscht, und "wenn Oliver ein Terrorist gewesen ist, so hat ihn der Staatsschutz dazu gemacht". Bei Hein sind die Täter mal wieder die eigentlichen Opfer der Verhältnisse. Das hat uns Heinrich Böll in der "Verlorenen Ehre der Katharina Blum" schon weit intelligenter weiszumachen versucht. Hein lässt seinen Helden sogar behaupten, Grams - der im Roman Oliver Zurek heißt - könne eigentlich keine Straftat nachgewiesen werden. Das ist glatte Geschichtsklitterung. An der Ermordung des Treuhand-Chefs Detlev Carsten Rohwedder war er mindestens beteiligt - und dass Grams den Polizisten Michael Newrzella in Bad Kleinen erschossen hat, gilt als wahrscheinlich.

Aufräumen mit den Mythen der 68er

Was Hein und Tellkamp eint, ist ihr opportunistisches Changieren zwischen Fiktion und Fakten, zwischen Erzähler-Ich und Autorenhaltung. Während Hein mit heller Stimme eine verquaste Anklageschrift verliest, verbirgt Tellkamp seine reaktionäre Agenda hinter seinen Figuren. Beide Autoren schreiben vom Terror in Deutschland, doch mit der Auseinandersetzung um deutschen Terrorismus haben ihre Bücher nur am Rande zu tun. Wer darüber etwas erfahren will, der sollte sich vielmehr das in der Hamburger Edition verlegte schmale Bändchen "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF" zu Gemüte führen. In diesem glänzend geschriebenen Sachbuch werden einige Mythen abgeräumt, die heute noch in den Vorgärten der Post-68er gehegt und gepflegt werden.

So widerspricht Wolfgang Kraushaar energisch der These, der Linksterrorismus sei bloß ein bedauerliches Zerfallsprodukt von 1968. Jan Philipp Reemtsma kritisiert die - zum Teil bis heute wirkende - Verharmlosung des RAF-Terrors durch linke Intellektuelle. Und Karin Wieland liefert eine Nahaufnahme des "Narziss und Dandy" Andreas Baader, der mit Politik offenbar relativ wenig zu tun hatte.

Kraushaar beschreibt zunächst, dass schon Rudi Dutschke mit dem bewaffneten Kampf sympathisierte. Terror hieß bei Dutschke freilich "Stadtguerilla", und seine Äußerungen zu diesem Thema blieben oft seltsam unklar. Als er am Grab des im Hungerstreik ums Leben gekommenen Terroristen Holger Meins die Faust ballte und rief, "Holger, der Kampf geht weiter!", konnte sich jeder denken, was er wollte. Eine Woche später hat sich Dutschke dann vom Terror der RAF in einem SPIEGEL-Gespräch wieder distanziert.

Zweimal war Dutschke Ende der sechziger Jahre freilich selbst an der Planung von Gewalttaten beteiligt - die er als "Gewalt gegen Sachen" verstanden wissen wollte. Zu Beginn der verhängnisvollen Terror-Entwicklung in Deutschland sieht Kraushaar zwei Schlüsselfiguren: Den "idealisierten Rebellen" Rudi Dutschke und den "Dandy des Bösen" Andreas Baader, der nicht aus politischer Überzeugung, sondern reinem Narzissmus und der Liebe zu Seidenhosen um sich ballerte. Vor allem dem linksgedrehten Lesepublikum waren solche Thesen natürlich viel zu steil, und es wundert nicht, dass die "Süddeutsche Zeitung" darüber zeterte und die "FAZ" in Verzückung geriet. Tatsächlich ist das kleine Buch das Beste, was seit langem zum Thema Terror und Triebe in Deutschland erschienen ist - und zwar weil es seinen Gegenstand erhellt und nicht vernebelt, so wie Tellkamp und Hein das getan haben.


Uwe Tellkamp: "Der Eisvogel" (Rowohlt Verlag, Berlin 2005); 320 Seiten, ca. 19.90 Euro
Christoph Hein: "In seiner frühen Kindheit ein Garten" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2005); 272 Seiten, ca. 17.90 Euro
Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland: "Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF" (Hamburger Edition, Hamburg 2005); 142 Seiten, ca. 12 Euro

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