"Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre Stuck in the middle with you

Autor Stuckrad-Barre
Foto: Christian Augustin/ Getty ImagesMit dem Roman "Panikherz" tritt Benjamin von Stuckrad-Barre ein tumultöses Gewitter los, das seinesgleichen sucht - und findet.
Das popkulturelle Feuilleton schnappatmet um seinen (endlich doch) Großmeister. Die Welle an Rezensionen, Klatschgeschichten, Hymnen ist Teil der Versuchsanordnung, das Buch lappt übergangslos in die Realität, der Klient ist wieder an seiner ersten unwiderstehlichsten Droge: Erfolg.
Damit das vorweg klar ist: Das Buch ist geil.
Kracher. 576 Seiten. Davon kann man 150 bis 200 als Singles auskoppeln. Noch mal so viele sind Bonustracks über Harald Schmidt, Thomas Gottschalk und die Beach Boys. Kritikvorschlag: Der Lektor wird's schon richten, weniger wäre weniger gewesen, drei Bücher zum Preis von einem - dankeschön.
Benjamin freut sich, leidet, wütet
Zwischen Stuckrad-Barre und seinen Rezensenten besteht seit jeher eine innige SM-Beziehung. Mancher, der sich mal eben noch irgendwo im Journalismus rumprostituiert, hat natürlich den eigentlichen, den ganz großen Roman - schon praktisch fertiggeschrieben - in der Schublade liegen. Gut, dann kommen Kinder, Krisen, leistungsfördernde Medikamente und Erektionsstörungen. Und dann funkelt dieser Adelsschnösel daher - und tut es einfach. Was für eine Maximalbeleidigung!
Stuckrad-Barre stellte mit seinem jähen Erstling "Soloalbum" die Selbsterzählung mehrerer Generationen von Journalisten infrage. Zur Strafe wurde er in brutalstmöglichem Tempo hoch- und runtergeschrieben. Nicht viele vor ihm durften mit 24 Jahren lesen, dass sie früher, also mit 23, auch besser gewesen seien. Denn das ist der andere Part: Benjamin liest das alles, freut sich, leidet, wütet. Und ewig ruft der Freundeskreis: "Kaspar! Hinter dir! Das Krokodil!"
So schnappte es zu. Und davon erzählt "Panikherz".
Beim Hungern hilft Kokain, beim Kokain: Geld
Das vierte Kind als fünftes Rad. Protestantische Pfarrersfamilie, viel guter Wille in norddeutscher Provinz, die gesinnungsmäßig doch mal gern aus dem Stiefel stinkt. Nichts wie weg.
Wenn man selbst nichts zu sein glaubt, hält man sich an Leute, die doppelt so viel scheinen: Helden, Stars, lebende Gipfelkreuze auf dem Weg zum Starruhm. Man muss nur weghungern, was nicht ins Heldenschema passt. Beim Hungern hilft Kokain. Und beim Kokain hilft Geld. Eine runde Sache.
Stuckrad-Barre beschreibt die ganze Werkstattpatina seines Langstreckenselbstmordversuchs und schaut sich selbst beim Schreiben zu. Wie ein liebevoller Bruder seiner selbst; und davon kann man, wie die Geschichte seiner Rettung zeigt, nie genug haben. Der Autor röntgt die morschen Pfahlbauten unter plustrigen Phrasen. Er findet genaue Worte und zärtlichen Humor selbst für das Wrack, dass sich in seiner Kotze windet.

Benjamin Stuckrad-Barre: Ein Leben in Bildern
Üblicherweise käme hier der Stoffvermarkter-Generaleinwand: Wo ist da bitte der love interest?
Nun, der residiert im Hotel und trinkt auch ganz gut. Er heißt Udo Lindenberg. Und dass dieses wagemutige Rendezvous mit der Peinlichkeit gelingt, ist ein Wunder dieses Buches. Klar, als andere Verpeilte irgendwelche RAF-Psychopathen aus dem Knast freisprengen wollten, tat der Allerpanischste ebendies mit der ebenfalls schlimm inhaftierten deutschen Sangessprache: "Da war so viel los, das Leben bestand ausschließlich aus Sensationen. Und jeder Tag brachte jede Menge fantastische Situationen."
Das ließ dann nach. Lindenberg durchgrub fast ein Jahrhundert deutschen Liedgutes und restaurierte vieles, was der große Selbstmordversuch der Deutschen mit sich zerniert und blamiert hatte. Das gesungene deutsche Wort gehört heute nicht den auch sonst starkdeutschen Kräften. Das ist ein Verdienst vor allem Lindenbergs, der sich vor solchem und jedem Ruhm hinter seiner Brille-Hut-Panikgürtel-Verkleidung versteckt.
"Ich war hier"
Stuckrad-Barre gelingt ein erschütternd schönes Kapitel über eine jener zähen Selbstzitataktionen, einen "Sonderzug nach Magdeburg". Der durchbricht eine deutsche Styropormauer und spielerisch auch jede andere Untergrenze der Originalität. Das Erzähler-Ich torkelt durch die Mumienfracht an Bord, präpariert aus der tiefsten Peinlichkeit die lauterste Ehrlichkeit heraus - und liebt. Lindenberg glitzert als Nuschel-Osho selten, doch beständig durch das Werk.
"Ich war hier" - ein hübscher Grabspruch für jedermann. Stuckrad-Barre war Mitte der Nullerjahre in manischer Sammelwut verstummt und veröffentlichte Suchmaschinenlisten. Im Produktionsbüro seines Dokumentarfilms über Toilettenwände und Gästebücher - eben "Ich war hier" - verglühte der schmale Etat. Für bizarre Flugrouten, stornierte Hotels und terminlich leider nicht einzuhaltende Drehtage. Gerüchtehalber ging es dem Abwesenden um Gesprächsbedarf im Interessentenkreis einer prominenten Künstlerin. Im Nachhinein wäre ordentlicher Liebeskummer sanfte Alternativmedizin zu dem, was tatsächlich sonst noch so los war.
Keine reine Recherche, sondern auch sein Leben
Hier wie dort in "Panikherz" liest man die Rückseite solcher Begebenheiten und will den Patienten schütteln, umarmen, gern auch mal ohrfeigen, irgendwie seinen starren Blick auf die Abwrackprämie lösen. Schwacher Trost, dass in der Drogentherapie nichts ohne intrinsische Motivation geht. Es wäre trotzdem liebevoll gewesen, damals am Selbstzerstörer scheitern zu dürfen. Schön schlimm. Er hat es selbst hinbekommen, nur so geht's.
Und mal unter uns: Literaturkritik ist nicht Kritik der literarisch dargestellten Charaktere. Diese Grenze verwischt Stuckrad-Barre selbst. Die 20 Jahre beschriebenen Irrsinns waren keine reine Recherche, sondern auch sein Leben. Nun schießt den einen die Milch ein, den anderen die Galle, und alle haben ein dickes großes Buch zum Staunen und Meinen.
Und der Autor? "Benjamin, geht es dir gut?", fragt einer der Stuckrad-Barre-Helden unterwegs den Taumelnden. Das ist immer eine gute Frage.
Friedrich Küppersbusch ist Journalist, Autor und Fernsehproduzent.