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Weltkriegs-Tragikomödie: Aberwitzige Geschichte dreier Frontsoldaten

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Kriegstragikomödie Wer hat uns verraten? Die Frontkameraden

Der Krieg ist gewonnen, bereichert euch: Pierre Lemaitres "Wir sehen uns dort oben" zeigt eine korrupte Nation - und erzählt mit tollkühnem Überschwang vom modernen Menschen im Angesicht der moralischen Katastrophe.

"Wir sehen uns dort oben" spielt von 1918 bis 1920, im französischen Original erschien es 2013, eigentlich aber ist dies ein Buch aus dem 19. Jahrhundert - als man noch bedingungslos an den Roman als mitreißende Erzählung voller beeindruckender Effekte glaubte. "Wir sehen uns dort oben" ist voll starker Figuren, hat eine dramatische Handlung und den Reiz des respektlosen Umgangs mit einem vermeintlich unantastbaren Thema der europäischen Geschichte: dem Gedenken an die Toten des Krieges.

Im Mittelpunkt des Buchs stehen drei Kriegsteilnehmer: Henri d'Aulnay-Pradelle, während des Ersten Weltkriegs Leutnant der französischen Infanterie, Vorgesetzter des Soldaten Albert Maillard. Den kostet eine verbrecherische Aktion Pradelles fast das Leben, Pradelle hingegen wird als Kriegsheld gefeiert.

In einer drastisch ausgeschmückten Szene schildert Pierre Lemaitre, wie Maillard, begraben von Schlamm und von einem Pferdekadaver, fast erstickt - bis ihn sein Kamerad Édouard Péricourt rettet. In letzter Minute, und nicht, ohne dass Péricourt dabei selbst schwersten Schaden nimmt. Getroffen von einem Granatsplitter ist Péricourt fortan ein Mann mit nur noch halbem Gesicht, ein kriegsversehrtes Monster, eine Figur, wie aus dem Comic, dem Horrorfilm.

Nun ist es Maillard, der Péricourt rettet, sich während langer Hospitalaufenthalte aufopferungsvoll um ihn kümmert - beide verfolgt von den Nachstellungen Pradelles, der sie als Zeugen seines eigenen Verbrechens aus dem Weg räumen will und, ohne es zu ahnen, zudem in die Familie Péricourt einheiratet. Die Gesetze der Tragikomödie, des handlungsprallen Romans reizt Pierre Lemaitre aus bis fast an die Grenze zur Operette.

Es treten weiterhin auf: Ein schwerreicher Vater, der seinen Sohn für tot hält; eine enttäuschte aber lebenskluge Tochter; Geliebte, Dienstmädchen, Prostituierte; korrupte Geschäftsmänner, allesamt ebenso unappetitlich wie ein verarmter, griesgrämiger Inspektor, der die Ermittlungen gegen Pradelle ins Rollen bringt. Der hat beim großangelegten Betrug bei der Umbettung von Kriegstoten Millionen verdient.

Höhnischer, antiautoritärer Gestus

Schmutzige Geschäfte, Drogen, Sex, dazu noch ein kluges Kind - eigentlich fehlen nur sprechende Tiere. "Wir sehen uns dort oben" hätte eine Kriegsklamotte mit einseitiger, allzu grobschlächtiger Moral werden können: Diejenigen, die ihre Frontkameraden während des Kriegs betrogen haben, sind auch diejenigen, die sie auch zu Friedenszeiten betrügen. Würden sich die beiden positiven Helden nicht ebenso mit einem - noch viel größeren Betrug - bereichern. Maillard und Péricourt, der sich maskiert vor der Welt verbirgt, verkaufen Kriegerdenkmäler, die es gar nicht gibt.

Mit höhnischem, antiautoritären Gestus führt Pierre Lemaitre die Verkommenheit der beinahe gesamten französischen Gesellschaft vor, die sich vom moralischen Zusammenbruch eines vierjährigen, grausamen Weltkriegs so schnell nicht erholt. Für den deutschen Leser ist das eine ungewöhnliche Perspektive, man ahnt, welche Sprengkraft Lemaitres Stoff in Frankreich gehabt haben muss, wo das Gedenken an den Ersten Weltkrieg noch immer die weihevolle Angelegenheit einer stolzen Siegermacht ist. Dort wurde "Wir sehen uns dort oben" mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet, dem Prix Goncourt; war ein Bestseller.

Zu einem besonderen Roman, der bloßer historisch kolorierter Unterhaltungsliteratur weit überlegen ist, wird das Buch nicht allein dieser politischen Haltung und seiner mit grimmigem Humor betriebenen Zuspitzung wegen - sondern, weil Pierre Lemaitre seine Gratwanderung gelingt: Ein Roman, der so kurzweilig und lebensprall ist wie die Romane jener Zeit, als man noch an den großen Roman glaubte - dazu aber so skeptisch und dem Einzelnen, dem Außenseiter verpflichtet, wie die Bücher der Moderne, jener Zeit, als man den großen, mitreißenden Roman längst für eine Kunstform einer untergegangen Epoche hielt.

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