Potter-Glosse Krieg der Welten

Es war die Stunde, die auf Mitternacht führt und die in Richmond, dem Alterssitz von Mick Jagger und Jerry Hall, auch sonst jede Menge Geistererscheinungen bietet. Denn es war die Stunde, in der die Pubs schließen und nun alles betrunken auf der Straße lag. Doch diese war besonders - es war die Harry-Potter-Stunde.
Von Matthias Matussek

Die Teenager, die da wie immer mit verrutschten Faltenröcken und Springerstiefeln und rot unterlaufenen Augen auf dem Bürgersteig der High Street herumsaßen und sich zu erinnern versuchten, wie der Anfang von "Angel" geht und in welcher Sternenrichtung die Bushaltestelle liegt, hatten es plötzlich mit Pulks anderer Nachtschwärmer zu tun. Mit einer Gegenwelt.

Mit Kindern, die bleiche Eltern hinter sich herzogen, mit Hexenhut-Trägern, die bereits vor den hell erleuchteten Buchläden anstanden, vor den Glasfronten von Waterstone und W.H.Smith, mit Nachtschwärmern in Schlangen, die anschwollen, was die Alkoholleichen kurz hoffen ließ, denn wo Schlange gestanden wird in London, da gibt es was zu trinken.

Bis, Schlag zwölfe, Schreie zu hören waren, und die muskulösesten der Buchhändler-Lehrlinge sich aufführten wie die Rausschmeißer der Kneipen, die gerade dicht gemacht hatten.

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Potter-Fans weltweit: Verzückt und verzaubert

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Harry-Potter-Stunde. W.H.Smith hatte 2000 Exemplare vom "Harry Potter and the Half-Blood Prince" auf Lager, in bunten hohen Türmen auf Paletten oder schwarzweißen Ausgaben - das waren dann die seriöseren für die Bücherregale der Eltern.

Bisher verkaufte Harry-Potter-Gesamtauflage: 265 Millionen. Bereits im ersten Band, schon auf Seite 15, prophezeit Professor McGonagall: "Jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen." Nun also, mit Band sechs, kennt ihn auch jeder Erwachsene, und in dieser Nacht standen wir an, um mit Potter-Lesern in Tel Aviv, Sydney, Kalkutta, Bangkok, Edinburgh und New York einen weiteren Weltrekord zu brechen: Noch nie waren so viele Bücher in einer Nacht verkauft worden.

Ich persönlich mache mir nichts aus Potter. Mein Freund Al auch nicht. Trotzdem trafen wir uns unter den Hunderten in der Schlange vor W.H.Smith. Al hat früher mit Test Department gespielt, die wiederum mit den Einstürzenden Neubauten aufgetreten sind. Er hat Erfahrung mit Grotten-Wesen. Heute gehört er zum Stamm der Ausgenüchterten. In seiner Freizeit spielt er in einer Militärkapelle Dudelsack. Ein Knuddel-Daddy ist er nicht. Er gehört nicht zur Harry-Potter-Familie. Doch seine Tochter gehört dazu. Wahrscheinlich hat sie, in der Hogwarts-Parallel-Welt, längst einen Ersatz-Vater.

Man munkelte von Küssen

Liz, so hieß die Kleine, hatte ihre Freundinnen dabei. Und meine Frau hatte mich dabei, stellvertretend für meinen Sohn, der, zunächst ziemlich aufgekratzt durch den Hype, dann doch frühzeitig eingeschlafen war. Mein Sohn übrigens gehört auch nicht ganz zur Harry-Potter-Familie. Er findet seit neustem Gangster-Rap cool, 50 Cent mit seiner Halbautomatik, ein bedenkliches Rollenmodell. Ich habe ihm gesagt, dass er so was von hinter die Löffel kriegt, sollte er sich unterstehen, jemanden umzumähen in einem dieser Bandenkriege, die offenbar unvermeidlich sind heutzutage.

Mit dem anderen Bein allerdings ist er wohl doch noch in Gryffindor. Im Moment allerdings war er im Bett. Und ich stand an. Und Alistair war genauso genervt wie ich, denn im TV lief gerade die sehr gute Beerdigungs-Episode von "Desperate Housewives".

"Was ist eigentlich aus Hagrids Dinosaurier geworden?", fragte ich Alistairs Tochter leutselig. Ich konnte mich blass erinnern, dass ich so was meinem Sohn mal vorgelesen hatte. Musste Jahre her sein. "Es war ein Drache", zischelte mir meine Frau ins Ohr. Doch es war zu spät. Liz würdigte mich noch nicht mal einer Antwort. "Ich habe gehört, dass Harry Potter in dieser Folge in eine Frau verwandelt wird", sagte ich, um mich zu rächen.

Natürlich war das das Spiel in der Schlange. Was alles passieren würde. Man munkelte von jeder Menge von Küssen neben allen Zaubergefechten und Gruft-Geschichten. Schließlich sind die Potter-Rangen in der Pubertät. Und Blair sollte auftreten. Eine Art Blair-Witch-Hunt? Die Buchhändler-Assistenten schwitzten, die betrunkenen Teenager grölten "Poddder", die Kinder schnatterten, und die Frauen fieberten. Und als wir das Buch in den Händen hielten, rochen wir dran, hielten es in die Höhe, ließen uns draußen von den Wartenden, wie alle anderen, feiern. Alistair musste vier von den Schwarten schleppen. Seine Papiertüte riss. Liz stieß sich den Kopf. Ihre Freundinnen zankten sich. Ich sah Al noch rudern und zappeln unter seinen Mädchen in dieser Nacht, es sah nach Einstürzenden Neubauten aus, schwarze Spinnenbeine und bleiche Hexengesichter überall, aber da waren wir schon unterwegs nach Hause, in Sicherheit.

Nun ja, zu Hause legte ich mich ins Bett, denn "Desperate Housewives" lief nicht mehr. Und da gerade nichts anderes zur Hand war, und meine Frau einen Tee auf den Nachttisch gestellt hatte und ein paar Kekse, und nun im Schein der Nachttischlampe das Harry-Potter-Buch aufgeschlagen hatte, mit einem geradezu lustvollen Seufzen, sagte ich: "Na gut, lies vor." Tatsächlich, Blair kam bereits im ersten Satz vor: "Es ging auf Mitternacht zu, und der Premierminister saß allein in seinem Büro und las ein langes Memo, das durch seinen Kopf rauschte, ohne auch nur die leiseste Spur von Bedeutung zu hinterlassen." Ich musste zugeben, es war ein ziemlich guter erster Satz.

Katastrophen einer Märchenwelt

Auch der zweite begann nicht schlecht: "Er wartete auf einen Anruf des Präsidenten eines weit entfernten Landes..." Dann ist von zusammenbrechenden Brücken und anderen Katastrophen die Rede und auf dem Tisch des Premiers bellen die Schlagzeilen der Zeitungen: "Recht und Ordnung brechen zusammmen, und der Premier tut nichts."

Das klang gar nicht so dumm. Also hörte ich weiter zu, selbst als die Porträts an der Wand des Premierminister-Büros anfingen, zu sprechen. Es war unterhaltsam. Es war gut. Es brachte den Boden der Tatsachen ins Schwanken, und die Katastrophen der letzten Tage machten den Katastrophen einer Märchenwelt Platz, von denen man weiß, dass sie letztlich gut ausgehen, und das ist ein wunderbares, beruhigendes Gefühl.

Irgendwann bin ich eingeschlafen. Also bekam ich die Stelle, wo Harry Potter in eine Frau verwandelt wird, nicht mehr mit.

Aber ich bin sicher, Liz, auch da gibt es eine vernünftige Lösung.

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