Projekt "Absender unbekannt" Wie man sich lustvoll verzettelt

Wenn Textsammler auf Zetteljagd gehen, winkt ein besonderer Finderlohn: Stilblüten und Kurioses, in denen sich das Menschliche in all seinen Facetten widerspiegelt. Der Kein & Aber-Verlag präsentiert eine herrliche Notizensammlung - zum Staunen, Schaudern, Mitmachen.
Von Doris Plöschberger

Ähnlich den Aufdrucken auf Zigaretten- und Tabakpackungen ("Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen") ist diesem Buch eine dringende Mahnung mitgegeben: "Nicht von vorne bis hinten durchlesen. Der Wahnsinn wird dich verschlingen."



Gewarnt wird hier nicht vor den Nebenwirkungen der üblichen, marktbekannten Stimulantien, sondern vor den Auswirkungen ganz gewöhnlichen Papiers: simpler Zettel unterschiedlichen Formats, viele schmutzig und zerrissen, einige auch säuberlich betippt und bedruckt, manche von oben bis unten vollgekritzelt, manche auch nur mit einigen wenigen Worten versehen, mit aufmunternden Botschaften wie "Alles wird gut" oder auch rätselhaften Nachrichten, wie zum Beispiel: "mehr Brötchen – mehr Tassen – weniger Lügen".

Scheiß-Diät-Sirup

Wer selbst nicht auf die Idee kommt, sich nach einem Stück schmuddeligen Papier auf dem U-Bahn-Boden, unter einer Parkbank oder vor sich am Gehsteig zu bücken, der wird überrascht sein zu hören, dass es auf der ganzen Welt leidenschaftliche, geradezu süchtige Jäger und Sammler verlorener, vergessener oder sonst wie verstreuter Notizzettel, Briefe und Mitteilungen aller Art gibt, auf denen notiert ist, was den Einzelnen eben so bewegt: von dringend zu erledigender Besorgungen ("Caesar-Dressing, Scheiß-Diät-Sirup, Ersatzwischmop…") bis zur Liste der "Dinge, die mich glücklich machen" ("wenn ich gut aussehe… wenn ich in der Öffentlichkeit pupse & es mir schnurz ist, was andere dabei denken…") und diverser "Gründe, mich NICHT zu lieben" ("Ich bin ein Schwein. Hab mit deiner besten Freundin geschlafen. Ich bezahle nie…").

Alaska und Bangladesh

Einer dieser Sammler ist der amerikanische Journalist und Autor Davy Rothbart, nach eigenem Bekunden ein echter Zettel-Afficionado, der seit seiner Grundschulzeit zusammenträgt, was andere an privatem Schriftverkehr so liegen lassen. Irgendwann reichte ihm die eigene Kollektion dann nicht mehr: Rothbart begann selbst, überall in den USA Zettel zu streuen - mit dem Aufruf an andere Sammler, ihm doch ihr Fundstücke zu schicken.

"Erst tat sich nichts. Dann ging es Schlag auf Schlag. Sogar aus Alaska und Bangladesh kamen Einsendungen", erzählt Rothbart, und das war der Beginn eines Projekts, das längst eine eingeschworene Fangemeinde und das Potential zum Kultstatus hat. Aus den besten Einsendungen collagierte Rothbart das Magazin "Found", das es mittlerweile schon auf vier Bände gebracht hat (nebst dreier Bände "Dirty Found", der Auswahl für alle, die es etwas schärfer mögen.) Die besten Fundstücke sind natürlich auch im Internet zu sehen  , und Rothbart tritt bereits mit Lesungen  aus seiner Sammlung auf.

Immer schlimmer

Inzwischen grassiert die Zettel-Sucht auch im deutschsprachigen Raum. Der Zürcher Verlag Kein & Aber hat es übernommen, die Leute anzufixen. Als Einstiegsdroge dient eine Auswahl und Übersetzung der besten Fundstücke aus den ersten beiden Bänden der englischsprachigen "Found"-Magazinen, die jetzt in dem Band "Absender unbekannt. Gefundene Zettel, Mitteilungen und Briefe" nachzulesen und zu besichtigen sind.

Schon der Umschlag des aufwendig gestalteten Bandes macht Lust auf mehr: "Alles Gute zum 30., Kleines" ist da auf einem zerknitterten und dem Anlass wenig würdigen Zettel zu lesen: "Es wird besser und besser! Und dann wird's schlimmer. Alles Liebe DE". Und daneben hat jemand auf einem Stück Papier notiert: "Was ich brauche: Teppichreiniger, Nagelknipser, Wattestäbchen, Sex und Verständnis, Öl, Gemüs., Reis, Warzenentf. + Heftpflaster".

Die Listen, Briefe, Mitteilungen und Post-its, die auf den 160 großformatigen und bunten Seiten dieses Buches reproduziert sind, bringen dann ziemlich alles zur Sprache, was das Leben und den Alltag eben so ausmacht, den Kampf Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Tier und Mensch gegen Auto, vor allem aber jede Menge Emotion: Liebe, Hass, Wut, Verzweiflung, Langeweile und allerlei bizarre Bedürfnisse und Obsessionen.

Da wünscht sich jemand, "an den Sneakers und Stiefeln eines Messdieners zu riechen", und ein anderer schreibt eine etwas andere "Liste zu erledigen: uns gegenseitig beim Masturbieren zugucken… spazieren gehen, einen halb öffentlichen Ort finden, du bückst dich, ich hebe deinen Rock hoch und mach’s dir von hinten im Stehen…"

Äußerster Notfall

Die meisten Texte bestechen durch ihre Unmittelbarkeit, durch ihre radikale und hemmungslose Privatheit. Wer da schreibt, stellt keine ergründenden Reflexionen an, sondern überlässt sich meist ganz dem Gedankenblitz und dem augenblicklichen Gefühl. Wie im mündlichen Selbstgespräch dominiert das, was einem gerade durch den Kopf schießt, nach der gewählten Formulierung wird eher selten gesucht: "Das Referat endlich vom Arsch kriegen".

In den vollen Genuss der manchmal schrillen Mitteilungen, manchmal närrisch-emphatischen Bekenntnisse kommt aber nur, wer nicht nur die Botschaft liest, sondern die Papierfetzen und Seiten selbst betrachtet und die gelegentlich abenteuerliche Orthografie auf sich wirken lässt, die deutlich macht: Hier schreibt einer, der die Schrift als Mittel zur Kommunikation nur im äußersten Notfall benutzt. Nicht nur die Nachricht ist die Botschaft, sondern eben auch das Medium, die unterschiedlichen, mal krakeligen, mal exaltierten Handschriften, die achtlos abgerissenen Notizzettel und aufwendig mit Zeichnungen verzierten Bögen.

Der Verlag hat sich denn auch alle Mühe gegeben, um Authentizität und Originalität der Fundstücke möglichst zu wahren. Mehr als zwanzig Mitarbeiter wurden dafür engagiert, die aus dem Amerikanischen übersetzten Texte zum größten Teil per Hand neu abzuschreiben. Diese Handschriften (und wenige Maschinenschriften) wurden auf die Originalzettel gesetzt, von denen zuvor der fremdsprachige Original-Text retuschiert wurde.

Entstanden ist so ein Zettelkasten in Buchformat, der voller miniaturhafter Grotesken steckt und auf beeindruckende Weise dokumentiert, wie poetisch aufgeladen der scheinbar profane Alltag in Wahrheit ist: "Kyle, du Arsch, diesmal bist du zu weit gegangen. Man hat mich SCHON WIEDER BEKLAUT! Diesmal fehlen mein Ausweis, die Schecks und das Gleitmittel. DU BIST EIN DIEB UND LÜGNER. VON JETZT AN LEBST DU NICHT MEHR HIER…"

Katze - tot

Die Suche nach den Zeugnissen einer ganz privaten Schriftkultur im Zeitalter der elektronischen Medien will der Kein & Aber Verlag im deutschsprachigen Raum fortsetzen. Eine Website ist bereits eingerichtet . Die besten Fundstücke werden dort präsentiert. Eine Einsendung aus der Schweiz hat der Verlag schon bekommen: "Katze schwarz mit weiss am Kopf und Pfoten. Wir haben Ihre Katze – tot – auf der Manessestrasse gefunden. Eine Tierärztin hat sie zum Polizeiposten Schmiede Wiedikon gebracht. Für weitere Informationen (oder um sich zu bedanken) kann man sich bei Hannelore Hage melden."


Davy Rothbart (Hg.): "Absender unbekannt". Kein & Aber Verlag, 160 Seiten, 14,90 Euro

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