Randfiguren bei Thomas Mann Wie sich Robert Gernhardt in Hui und Tuij verliebte
Seine Lieblingsrandfigur? Robert Gernhardt muss kurz nachdenken. Huij und Tuij, sagte er dann. So heißen die greisen und inzestuösen "Ehegeschwister" aus "Joseph in Ägypten". In einer Randepisode beschreibt Thomas Mann, wie die beiden sich in eine Hütte zurückziehen, nachdenken und herumturteln. "In dem Alter noch so viele Kosenamen draufzuhaben: Mein Sumpfbiber, meine Rohrdommel, mein Fröschchen, meine liebe Erdmaus, das fand ich beachtlich - und sehr komisch", sagt Gernhardt.
So hat er sie dann auch gezeichnet. Ohne Bildvorlage, denn Darstellungen alter, sprich greiser Ägypter suchte er vergeblich. Aber zum Glück gab es eine viel genauere Vorlage: den Text Thomas Manns. In dem las er von welken Händen und krummen Rücken, eigentümlich verborgenen Faltaugen, dünnen Strähnen und entzahnten Kiefern. All diese Details finden sich dann auch bei den Gernhardtschen Huij und Tuijs, wie sie da händchenhaltend und altersstarr nebeneinander hocken. Aber hat sich das von Thomas Mann beschriebene "unbewegliche Lächeln" der Tuij bei Gernhardt nicht unversehens in ein greises Grinsen verwandelt? Ein Schelm, wer da einen zeichnenden Schalk vermutet. Und beim Betrachten leise lächeln muss.
Neben Huij und Tuij sind ab heute im ersten Stock des Buddenbrook-Hauses in Lübeck 23 weitere Zeichnungen zu sehen. Sie bilden "Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann". Von Gernhardt festgehalten auf getöntem Karton, gezeichnet mit Kohle sowie schwarzer, grauer und weißer Kreide. Robert Gernhardt hat das Thema ganz wörtlich genommen: Alle Dargestellten ließ er vom Bildrand beschneiden, "was nolens volens Randfiguren zur Folge hatte", so der zeichnende Dichter in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung im Rahmen der Festwoche zum 50. Todestag Thomas Manns.
Unter den Mann-Gernhardtschen Randfiguren finden sich wahrhafte Sonderlinge wie der Alkoholiker Lobgott Piepsam aus der Novelle "Der Weg zum Friedhof" oder der Hundemörder Tobias Mindernickel aus der gleichnamigen Erzählung, aber auch schmierige hochstapelnde Gecken ("Tod in Venedig"), prominentengeile Porträtistinnen (Rose Cuzzle in "Lotte in Weimar") oder dicke devote Rechtsanwälte ("Luischen"). Viele klobige Nasen, geränderte Augen, krumme Rücken, überfette Körper, kurz "Gedemütigte oder Genialische", wie die Lektorin Barbara Hoffmeister, die diese randfigürliche Auseinandersetzung initiiert und mitkonzipiert hat, im ausstellungsbegleitenden Buch schreibt.
Auf Gleis 14 des Frankfurter Hauptbahnhofs konnte die Lektorin Gernhardt für ihre Idee begeistern. "Was machst denn du gerade so", hatte er sie gefragt. Darauf sie: "Ich gehe angeln, nach Exzentrikern, bei Thomas Mann. Und du zeichnest sie". Seine prompte Antwort: "Das mach ich." Dass sich die Dinge unversehens auswachsen und ihn vier Monate lang beschäftigen würden, hatte er da noch nicht ahnen können. Es fanden sich einfach zu viele spannende Randfiguren im Werk Thomas Manns. Bald ließen sich Genealogien und Typologien aufstellen, leitmotivische Funktionen ausmachen. Denn Thomas Mann wäre nicht Thomas Mann, wenn man nicht von der scheinbar unbedeutendsten Nebenfigur auf die großen Linien und Strukturen seines Gesamtwerks kommen würde.
Mann hat sich in seine Figuren hineingedacht und vieles von sich in sie hineingelegt. So tragen manche von ihnen auch selbstabrechnende Züge, wie der schönheitsfanatische und narzisstische Dichter Spinell aus der Erzählung "Tristan" oder der nach dem Reiz männlicher Jugend schmachtende Lord Kilmarnock aus den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull". Realen Gestalten, die sich von ihm ertappt und karikiert fühlten, hielt der blitzschnelle Beobachter Thomas Mann gern entgegen: "Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des getröstet, sondern von mir, von mir." Aber auch eine andere Selbstaussage wird ihm zugeschrieben: "Bleiben wir weiterhin ungetröstet: Von uns ist die Rede, von uns."
Das zeichnerische Rückübersetzen der karikierenden Mannschen Figurenbeschreibungen hat Robert Gernhardt Spaß gemacht. Genauso wie das Wiederentdecken eines ironischen Vorbilds: "Schon als 14-Jähriger habe ich gemerkt, dass man mit Ironie punkten kann. Ich war zwei Jahre jünger als der Klassendurchschnitt, furchtbar schlecht in Sport und merkte, wenn man nach der Stunde sagte: 'Was war das wieder für eine hochinteressante Stunde', lachten meine Mitschüler, der Lehrer konnte mich aber nicht bestrafen." Hat er den ironischen Blick auf Andere von Thomas Mann abgeguckt? "Das Komische im Mitmenschen, in dessen Aufschwüngen und Abstürzen zu sehen, dieser Blick ist meiner Art, die Welt zu betrachten, nicht fremd."
Noch etwas anderes hat Gernhardt von Mann wissen wollen: Wie ist es, Künstler zu werden? Wie schafft man den Spagat, als Bürger ein strenges Glück zu leben und gleichzeitig Künstler zu werden und auch zu bleiben. "All dies eingedenk dessen, dass der Künstler auch der Verwandte des Scharlatans ist", stellt Gernhardt klar. Da hört man sie heraus, die an Mann geschulte Ironie.
Und die färbt auch die Abschlussworte seiner Rede zur Ausstellungseröffnung: "Sollte allerdings jemand angesichts der Blätter an den Wänden oder im Buch die Bezeichnung 'randfigürliche Kunst' vorziehen - immerzu. Meinen Segen hat er. Und das Zentrum des besagten Kosmos, der große Mann, um den sich hier alles dreht, hätte sicherlich auch nichts dagegen." Da kann er sicher sein.
Die Ausstellung "Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann. Zeichnungen von Robert Gernhardt" ist bis zum 29. September im Buddenbrookhaus in Lübeck zu sehen. Öffnungszeiten: täglich 10-18 Uhr. Infos: Tel. 0451 122 4190, www.buddenbrookhaus.de
Buch zur Ausstellung: Barbara Hoffmeister/Robert Gernhardt: "Das Randfigurenkabinett des Doktor Thomas Mann", S. Fischer Verlag, Frankfurt; 24,90 Euro