Einreiseverbot nach Gedicht Selbst Grass-Gegner kritisieren Israels Reaktion

"Völliger Blödsinn", "unnötige Aufwertung", "absurd": Sogar Politiker und Intellektuelle, die Günter Grass' Gedicht scharf kritisieren, verurteilen Israels Einreiseverbot für den Schriftsteller. Manche wie der Publizist Ralph Giordano äußern aber auch Verständnis für die Reaktion des Landes.
Günter Grass (Archivbild von 2009): Einreiseverbot "lenkt vom Thema ab"

Günter Grass (Archivbild von 2009): Einreiseverbot "lenkt vom Thema ab"

Foto: dapd

Hamburg - Die israelische Regierung gerät im Fall Günter Grass nun selbst unter Druck. Der deutsche Literaturnobelpreisträger hatte in seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" geschrieben, die Atommacht Israel bedrohe den Weltfrieden und könne das iranische Volk mit einem Erstschlag auslöschen. Israels Innenminister Eli Jischai von der strengreligiösen Schas-Partei verhängte daraufhin ein Einreiseverbot gegen den Schriftsteller. Doch diese Reaktion sorgt nun weltweit für Empörung. "Hysterisch" sei der Schritt der Regierung in Jerusalem, schreibt die israelische Zeitung "Haaretz".

Israels früherer Botschafter Shimon Stein sagte, die Regierung tue Grass mit ihrem Einreiseverbot den größten Gefallen. "Es lenkt vom eigentlichen, wirklich wichtigen Thema ab: dem Streben des Iran nach nuklearen Waffen", sagte Stein der Zeitung "B.Z.". Die Regierung lenke die Diskussion in eine falsche Richtung und werte Grass unnötig auf. Stein sagte, das Gedicht sei vor allen Dingen ein deutsches Thema, weil es dabei um die andauernde Bewältigung der eigenen Vergangenheit gehe.

Auch der israelische Schriftsteller Uri Avnery kritisierte das Einreiseverbot. "Grass zur Persona non grata zu erklären, ist völliger Blödsinn - schon allein deswegen, weil Günter Grass gar nicht den Plan hat, hierher zu kommen", sagte Avnery der Hannoverschen "Neuen Presse". Im Übrigen sei das Gedicht nicht antisemitisch.

"Unnötiger politischer Krawall"

"Es ist antisemitisch, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf", sagte Avnery. Israel wolle mit denselben Maßstäben wie andere Staaten gemessen werden. "Jede Einstellung, die besagt, dass Israel eine Art Sonderbehandlung haben muss, ist antisemitisch", sagte er. Es sei völlig unnötiger politischer Krawall, dass Deutsche und Israelis jetzt darum wetteiferten, "wer kann Grass mehr beschimpfen, und wer findet extremere Ausdrücke für ihn."

Der Jerusalemer Geschichtsprofessor Moshe Zimmermann wertete das Einreiseverbot als "Versuch von Zensur". Grass habe mit seinem Gedicht der israelischen Politik "die ideale Vorlage" geliefert, um das Bild zu pflegen, Israel sei von Feinden umzingelt. "Die Reaktion aus Jerusalem zeigt, wie groß der Bärendienst ist, den Grass der Sache des Friedens erwiesen hat", sagte Zimmermann.

Auch der israelische Journalist Tom Segev nannte den Schritt des Innenministers "absolut zynisch und albern". Er rücke Israel "in die Nähe fanatischer Regime - wie etwa Iran".

"Das Machwerk eines alten Mannes"

Auch deutsche Politiker nannten den Schritt überzogen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, sagte der Nachrichtenagentur dpa: "Am Ende reden alle über das Einreiseverbot und nicht mehr über den Inhalt von Grass." Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Rainer Stinner, kritisierte in der "Süddeutschen Zeitung" den Schritt als "Überreaktion der israelischen Regierung", sagte aber auch, Grass sei nicht in der Lage, die Komplexität der politischen Situation im Nahen Osten zu verstehen.

Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Reinhold Robbe (SPD), sagte der Tageszeitung "Die Welt", souverän wäre es gewesen, wenn Israel Grass eingeladen hätte, damit dieser seine Vorurteile und Feindbilder anhand der Wirklichkeit überprüfen könne. Zugleich griff Robbe Grass' Gedicht scharf an: "Dieses Machwerk ist das eines alten Mannes, der offensichtlich unter Realitätsverlust leidet."

Zur Versachlichung der Debatte forderte der Linken-Vorsitzende Klaus Ernst auf und bezeichnete das Einreiseverbot in der Mittelbayerischen Zeitung als "absurd". Zwar sei die Politik der iranischen Führung inakzeptabel und gefährlich - es gebe aber kein Recht eines Staates auf einen Erstschlag. Der Vorsitzende der Jungen Union (JU), der CDU-Politiker Philipp Mißfelder, forderte Grass im "Tagesspiegel" dagegen auf, sich für seine Kritik an Israel zu entschuldigen.

Giordano kann Israel "absolut verstehen"

Zustimmung erhielt Grass für sein Gedicht auf den traditionellen Ostermärschen. Auf den Kundgebungen habe es viel Rückendeckung für dessen Haltung gegeben, wonach es kein Recht auf präventive Militärangriffe gebe, teilten die Organisatoren mit. Dass Israel gegen Grass ein Einreiseverbot verhängt habe, sei ein "unmögliches Verfahren", sagte der Sprecher der Infostelle Ostermarsch, Willi van Ooyen.

Der jüdische Publizist Ralph Giordano verteidigte dagegen das Einreiseverbot. Er könne "die Regierung Netanjahu absolut verstehen", sagte Giordano der "Frankfurter Rundschau". Giordano begründete seine Ansicht mit der existentiellen Not, in der sich Israel angesichts der von Iran ausgehenden Bedrohung befinde.

Auch der in Israel geborene deutsche Historiker Michael Wolffsohn verteidigte den Beschluss aus Jerusalem. "Ich begrüße die Entscheidung der ansonsten auch von mir in vielen Punkten kritisierten Regierung Israels. Hier geht es nicht um den Innen- oder Premierminister, sondern ums Grundsätzliche. Ein Ex-SS-Mann ist keine moralische Instanz, schon gar nicht gegenüber den Opfer-Nachfahren", so Wolffsohn zu SPIEGEL ONLINE. "Unkoscheres wird auch durch den Nobelpreis nicht koscher, Bock bleibt Bock, Gärtner Gärtner, und Scheinheiliges wird durch Selbstbeweihräucherung nicht heilig." Grass solle sich an das deutsche Sprichwort erinnern: "Jeder kehre vor seiner Türe." Das habe der Schriftsteller bislang zu wenig getan.

Thierse warnt davor, Grass zum Antisemiten zu erklären

In der Debatte um künftige Wahlkampfauftritte von Grass für die SPD hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse vor voreiligen Schritten gewarnt. "Ich halte nichts davon, dass die SPD nun gewissermaßen wie der Staat Israel Günter Grass zur Persona non grata erklärt", sagte der Sozialdemokrat am Dienstag im Deutschlandfunk. Zugleich warnte Thierse davor, Grass zum Antisemiten zu erklären.

SPD-Politiker hatten sich zuvor gegen Auftritte von Grass in den kommenden Wahlkämpfen ausgesprochen. Der Literaturnobelpreisträger hatte die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder unterstützt.

"Man soll mit ihm in der Sache streiten, seine Urteile kritisieren, aber ihn nicht als Person diskreditieren", sagte Thierse. Grass' vorzeitigen Ausschluss aus dem SPD-Wahlkampf halte er "nicht für sonderlich sinnvoll". Zudem sei völlig offen, ob der Schriftsteller überhaupt erneut Wahlkampf für die SPD machen wolle. "Er hat nie alle Positionen der SPD vertreten, sondern war ihr in kritischer Solidarität verbunden."

Thierse fügte hinzu: "Wenn man Günter Grass wegen dieser einseitigen kritischen Position zum Antisemiten macht, dann ist das fatal." Dadurch entstehe der Eindruck, "Deutsche höheren oder mittleren Alters könnten dem Antisemitismus niemals entrinnen". Zudem werde das Vorurteil bestätigt, "dass Kritik an Israel ganz schnell des Antisemitismus verdächtig ist".

feb/dpa/dapd
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