Reportage Die Stadt, der Jazz und der Tod

Als die Nato  im Frühjahr 1999 die serbische Armee aus dem Kosovo vertrieb, blieb der Postbote Alexander Simovic in Pristina. Seinen Glauben an ein friedliches Zusammenleben der Völker bezahlte er mit seinem Leben. Eine Geschichte über Fußball und Freundschaft, über Hass, Hoffnung und Tod.
Von Claus Christian Malzahn

Alexanders Lieblingsstück war genau neun Minuten und 22 Sekunden lang, jedenfalls in der Studiofassung. Das reicht aus, um vom Grand-Hotel in Pristina bis zur großen Kreuzung der Landstraße in Richtung Amselfeld zu laufen. Ich habe das nachgemessen, weil ich wissen wollte, wie weit Alex gekommen sein könnte am letzten Tag seines Lebens. Daß er diesen hüpfenden, fordernden, ansteigenden Trompetenton im Ohr hatte, davon gehe ich aus.

"So What" erschien im Jahre 1959 auf Miles Davis legendärem Album Kind of Blue. Im Klappentext wird gewarnt: wer diese Musik höre, für den werde sie fortan ein "unentbehrlicher Bestandteil seines Lebens" sein. Zumindest an Alexander hatte sich diese Warnung bewahrheitet. Das Album war sein Katechismus.

Ich bin deshalb sicher, daß "so what" seine letzten Worte waren, weil er den Killern, die ihn im Sommer 1999 umgebracht haben, bestimmt nicht den Gefallen tun wollte, um sein Leben zu betteln. Alexander war cool, und ich kann mir bei ihm eben nur einen coolen Abgang vorstellen. Aber nehmen wir mal einen Moment an, daß er doch gezittert und geheult und gefleht hat - was eigentlich jeder tun würde, der einem einsamen, gewaltsamen Tod ins Auge blicken muß -, dann verdrängen wir diesen Gedanken gleich wieder und denken einfach an diese ebenso rhythmische wie simple, in 16 Takte unterlegte musikalische Figur von So What. Ich werde das jedenfalls so halten, weil es das letzte ist, was ich für Alex tun kann.

Alexander Simovic war ein hagerer junger Mann mit einem schmalen Falkengesicht. Seine braunen, lockigen Haare hingen ihm ungestüm in der Stirn. Sie lag fast immer in Sorgenfalten. Dazu gab es allen Grund. Denn Alexander war ein Serbe, und das war im Sommer 1999 in Pristina lebensgefährlich. Damals waren die Serben das wohl meistverachtete Volk der Welt. Nachdem serbische Milizen erst Sarajevo bombardiert und die Soldateska des General Mladic in Srebrenica ein furchtbares Massaker angerichtet hatten, trieb ihr Führer, Slobodan Milosevic, im letzten Jahr des ausgehenden Jahrtausends noch einmal alle Gespenster des Totalitarismus über den Balkan. Er versuchte, Hunderttausende Albaner aus dem Kosovo zu vertreiben. In diesem kleinen Landstrich, der kaum so groß wie Bayern eingekeilt zwischen Albanien und Mazedonien liegt, hatten die Serben ein Apartheidregime errichtet.

Wenn man Miles Davis hört, wirkt Pristina mit seinen nackten Nutzbauten, seinen überfüllten Straßen und dem allgegenwärtigen Müll nicht ganz so erbärmlich, wie es in Wirklichkeit ist. In der ganzen Stadt gibt es kein einziges sehenswertes Gebäude, ringsum nur grauer Beton und stinkende Rinnsale in den Gassen. Selbst die Kirchen sind häßlich. Bucklige Kathedralen, die seelenlose Plattenbauvariante des Gotteshauses, keine Orte der Einkehr und Besinnung, sondern Monumente der Eroberung und Herrschaft der Serben über die Albaner. Doch Alexander brauchte keine Jugendstilfassaden oder englische Gärten. Im Gegenteil. Je trister die Umgebung, desto intensiver der Ton. Alexander lebte bei seinen Eltern in einem Hochhaus im Ortsteil Kicma, einer Trabantenstadt. Sein Vater arbeitete bei der Post, die Mutter besorgte den kleinen Haushalt. Alexander hatte einen Job als Briefträger gehabt, doch im Sommer 1999 war der Postverkehr im Kosovo zusammengebrochen. Nichts funktionierte mehr, Strom und Wasser flossen nur sporadisch. Licht gab es nach Einbruch der Dunkelheit nur in den Hotels, die Energie über dröhnende Generatoren erzeugten und nicht auf die maroden Braunkohlekraftwerke bei Pristina angewiesen waren, deren serbische Ingenieure sich nach dem Einmarsch der KFOR aus dem Staub gemacht hatten und die komplizierte Anlage ahnungslosen Albanern überlassen hatten. Alexanders Eltern verließen die Wohnung nur selten. Der Sohn aber floh sein vielleicht zwölf Quadratmeter kleines Zimmer, so oft er nur konnte. Wenn Alexander durch die Stadt lief, dann setzte er einfach seinen Walkman auf und schaltete die Welt ab. "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum", zitierte er Friedrich Nietzsche, den er sehr verehrte.

Während mir Nietzsche suspekt war, gefiel Alexander dessen Ermunterung, "Dichter unseres Lebens" zu sein. Der Philosoph fordert in seinen Frühschriften, "Du solltest Herr über Dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden", und Alexander hat das so verstanden, daß sich ein freies Individuum von niemandem vorschreiben lassen sollte, wo es im Leben langgeht.

Doch in Pristina, das nur ein paar Kilometer vom Amselfeld entfernt liegt, waren freie Individuen nicht gerade eine massenhafte Erscheinung. "Der Kosovo ist befreit!" konnte man zwar in aller Welt lesen, als die serbische Armee im Frühsommer aus dem Kosovo abgezogen war. Nun bezogen die Truppen der KFOR ihre Quartiere; Deutsche, Briten, Italiener und Franzosen, und, der neuen Weltordnung zuliebe, auch eine Brigade Russen. Doch die militärische Präsenz des Westens allein schuf keine Freiheit, eine Tatsache, die sich bei künftigen Aktionen, ob sie nun von der UNO angeführt wurden oder nicht, immer wieder einstellen sollte. Die Lage in Pristina war kompliziert, die Atmosphäre gespannt und der Wunsch nach Rache sehr groß.

Der serbische Blutmythos, unter dem der Balkan zehn Jahre leiden mußte und der mehr als hunderttausend Tote und Millionen Flüchtlinge gefordert hatte, war vor den Toren Pristinas geboren worden. Im Sommer 1989 hatte Slobodan Milosevic eine Million Serben auf den Hügeln des Amselfeldes versammelt. Über 5000 Busse, Tausende von Pkws und Dutzende Sonderzüge hatten die Massen aus Serbien an den historischen Ort befördert. Man gedachte der Schlacht auf dem Amselfeld, die sich fast auf den Tag genau 600 Jahre zuvor dort abgespielt hatte. Mehr als 70000 Krieger des Osmanischen Reiches hatten seinerzeit 35000 Serben niedergemetzelt. Doch die Verlierer feiern die Schicksalsschlacht seit jeher wie einen Sieg - was viel über die serbische Mentalität aussagt.

Während in Mittel- und Osteuropa die Freiheitsbewegungen triumphierten und ein weitgehend friedlicher Übergang zur Demokratie eingeleitet wurde, kündigte Slobodan Milosevic auf dem Amselfeld "große Schlachten" an. Die Massen sangen serbische Kampflieder, großserbische Parolen wurden skandiert. Das Millionentreffen auf dem Amselfeld gilt als Beginn der Balkan-Kriege, auch wenn an diesem Tag noch kein Schuß fiel. Denn die meisten Serben waren Milosevic in seinen historisch bemäntelten Wahnwitz gefolgt.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie eine Kneipe mit Hilfe eines Hertha-Schals vor einem Überfall bewahrt wird.

An Alexander schien eigentlich nichts verdächtig, er wirkte unschuldig wie ein Kind. Er war wegen einer Krankheit, über die er nie sprach, nicht in der Armee gewesen. Diejenigen Serben, die etwas mit der Verfolgung der Albaner zu tun gehabt hatten, die Todesschwadronen oder der regulären Armee angehörten, waren nach dem Einmarsch der Nato-Truppen sofort im serbischen Mutterland abgetaucht. Die übrigen lebten in Enklaven, oft in der Nähe von orthodoxen Klöstern. Sie bestatteten ihre Toten nur noch innerhalb des Klostergeländes und ließen sich von KFOR-Soldaten mit Nahrungsmitteln versorgen. Außerhalb der bewachten Mauern wurden Serben gewöhnlich erschlagen. Alexander Simovic aber versteckte sich nicht und blieb, im Gegensatz zu den meisten seiner Landsleute, auch dann noch in der Stadt, als längst albanische Schlägertrupps und Todesschwadronen durch Pristina zogen, um Menschen wie ihn zusammenzuschlagen oder gar umzubringen. Die Albaner pfiffen auf die vom Westen gepredigten Werte und nahmen sich die gerade gewonnene Freiheit, den Spieß einfach umzudrehen. Ab sofort machte man im Kosovo Jagd auf Leute wie Alex. Andere Serben, besonders die Verbrecher unter ihnen, waren ja nicht mehr greifbar. "Ich bin hier geboren. Das ist auch meine Stadt", antwortete er auf meine Frage, warum er denn nicht längst über alle Berge sei. Dann wechselte er das Thema. Er war ein wandelndes Lexikon. Jeder Jazz-Sender hätte den Mann sofort eingestellt. Das war sein Traum: nach Kalifornien, weg von diesem ganzen Balkanblutundboden, und dann nur noch Musik und schöne Mädchen. Als Serbe war Alexander nun eine persona non grata. Für seine Trauer und Verzweiflung interessierte sich kein Mensch. Er kam mir vor wie der letzte Deutsche in Danzig, der auch nach dem Einmarsch der Roten Armee nicht kapiert, daß es höchste Zeit ist, zu verschwinden.

Er war seines Lebens nicht mehr sicher, aber er merkte es nicht. Als ich eines Abends im Juni zwei Bier beim albanischen Wirt des "Tricky Dicks" orderte, den Alex mir ein paar Tage zuvor als guten Freund vorgestellt hatte, flüsterte mir der Mann ungefragt zu: "Mit Alexander werde ich brechen müssen. Er ist ein Serbe." Ich war perplex. Alexander hatte im Tricky Dicks oft Platten aufgelegt, den Wirt gratis mit bespielten Tonbändern versorgt und im Laufe der Jahre bestimmt eine Menge Geld verflüssigt. Aber für den Mann hinter dem Tresen zählte das alles nicht mehr. Ich protestierte. "Das kannst du doch nicht machen. Alex ist dein Freund!" "Albaner und Serben können keine Freunde sein. Alle Serben sind unsere Feinde!" erwiderte der Wirt. Er klang wie ein Automat. Ich schüttelte den Kopf und sagte: "Alex hat doch nichts gemacht. Er hat sogar seine albanischen Nachbarn versteckt, als die Paramilitärs kamen!" Die letzte Bemerkung ignorierte der Chef des Tricky Dicks. Dann wollte er die Stimmung aufbessern, denn gegen die Deutschen, die ja auch gegen die Serben in den Krieg gezogen waren, hatte er ja nichts: "Hitler war ein guter Kerl", erklärte er grinsend, "er haßte nämlich alle Slawen." Ich ging mit dem Bier zurück zu meinem Tisch und sagte zu Alex, daß ich gehen wolle. "Warum?" fragte er verdutzt, "Gefällt es dir hier nicht?" Wir verließen das Lokal und schlenderten langsam den Hügel hoch. Es war stockfinster, kein Mond beleuchtete die Stadt und nur im Hotel und im nebenan gelegenen UNO-Gebäude brannte Licht. Gegenüber hatte noch eine Bar geöffnet. Auf dem Weg dorthin erzählte ich ihm, was mir sein Freund, der Wirt, gerade offenbart hatte. Alex hörte zu, schnäuzte sich die Nase und sagte nichts. Als wir nach 20 Minuten am Ziel waren und er ins schummrige Licht trat, bemerkte ich, daß seine Augen etwas gerötet waren. Ich klopfte ihm tröstend auf die Schultern. Er sah mich an und fragte bloß: "Was willst du trinken?"

Rettung mit Hertha-Flagge

Die Kneipe war ziemlich leer, aber sie hatte Strom und lag nicht weit vom Hotel. Von der Nähe der UNO versprach ich mir einen gewissen Schutz, falls irgendwelche Albaner vorbeikämen, um Serben zu jagen. Nur ein Mann stand am Tresen und war ziemlich betrunken. Er bestellte bei einem dicken, jungen Mädchen einen Whisky nach dem anderen. "Früher hieß die Kneipe Krol, und der Typ am Tresen war ihr Besitzer", erklärte mir Alex. Der Mann, Ende 20, hatte das Krol an einen etwa 40jährigen, drahtigen Neuseeländer verkauft, der sich zu uns setzte. Der Neuseeländer war mit den Briten, die nun als Schutzmacht über Pristina wachten, in die Stadt geschwemmt worden. Er hatte schnell kapiert, daß ein Kneipencafé gegenüber dem UNO-Hauptgebäude eine Goldgrube war. Dann hatte er dem Serben, der seines Lebens in Pristina nicht mehr sicher sein konnte, das Krol für 10000 Dollar abgekauft und ihm bis zu seiner Abreise nach Belgrad freie Getränke zugesichert - eine Entscheidung, die der neue Eigentümer jedesmal bereute, wenn er zur Theke blickte, da der Whiskyvorrat an der Bar dahin schmolz wie Eis in der Sahara.

Neben dem Säufer, der den Untergang seines Vaterlandes und den Verlust seiner Kneipe nicht verwinden konnte, hatte der Neuseeländer noch ein weit größeres Problem. Wir wußten, daß das Café Krol nun Kukri-Bar hieß; daß es sich also nicht mehr um eine serbische, sondern um eine internationale Kneipe handelte. Aber die albanischen Schlägertrupps wußten es nicht. Vor allem nachts terrorisierten sie serbische Geschäftsinhaber, Restaurantbesitzer oder Hauseigentümer. Sie bedrohten sie mit dem Tode, um an ihr Gut und Geld zu gelangen. Der Neuseeländer hatte einige Jahre als Ausbilder in der Armee des Sultans von Brunei verbracht. Das Militärwesen hatte es ihm angetan, deswegen nannte er seine Bar nach dem Kukri-Krummdolch der Gurkha; einem bekannten britischen Armeeregiment, dessen Angehörige aus Nepal stammen und die seit der Eroberung des Subkontinents im Dienste Seiner Majestät stehen.

"Wir bräuchten Flaggen", sagte der Neuseeländer. "US-Fahnen, deutsche Fahnen, den Union-Jack und so was. Die könnten wir dann vor die Fenster hängen. Dann würde jeder sehen, daß diese Kneipe nicht mehr serbisch ist." "Ich habe einen blau-weißen Fan-Schal von Hertha-BSC dabei", warf ich in die Runde. Freunde hatten mir einige Fußball-Devotionalien vor Abflug geschenkt, sie sollten mir Glück bringen. Mitten in der Nacht klebten wir nun Hertha-Schal, Aufkleber und Wimpel an die große Fensterscheibe der Kneipe, die nun Kukri-Bar heißen sollte. Dann ließen wir uns in den weißen Plastikstühlen nieder und den Hertha-Trainer Jürgen Röber hochleben. So vertrieben wir mit blau-weißen Farben die Gespenster des Balkan. Denn blau-weiß war auch die Farbe der albanischen Mannschaft von Pristina. Das ganze war absurd. Am lautesten von uns lachte Alexander darüber, er wieherte geradezu und erzählte einen Witz nach dem anderen.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Mitrovica. Am Straßenrand lagen tote Tiere; Hunde, Katzen und Kühe. Sie verwesten in der Sommerhitze, niemand kümmerte sich um die stinkenden Kadaver. Auf der Hälfte des Weges kam uns ein Flüchtlingstreck entgegen. Die Zigeuner aus Mitrovica verließen ihre Heimat. Dutzende Familien, vom Baby bis zum Greis, hatten ihr Hab und Gut auf Pferdewagen geladen und zogen Richtung Süden. Gegen die Gluthitze schützten sie sich mit Regenschirmen, gegen den Haß der Albaner waren sie machtlos. Ich bat die albanische Dolmetscherin, die mit mir, dem Fotografen und Alex im Auto saß, den Roma ein paar Fragen zu stellen. Sie verschränkte demonstrativ die Arme und sagte: "Who gives a shit for a gypsie?" Nach unserer Rückkehr warf ich sie raus.

"Mitrovica wird sein wie Berlin"

Mitrovica liegt am Ibar im Norden des Kosovo. Der Fluß teilt die Stadt in zwei politische Zonen. Der Süden wurde von etwa 10000 Albanern bevölkert, der Norden von rund 20000 Serben. Die Roma waren zwischen die Fronten geraten. Für sie war kein Platz mehr, in beiden Teilen der Stadt wollte man sie loswerden. Als wir Mitrovica nach zwei Stunden Fahrt erreichten, standen weißgraue Rauchwolken über der Stadt. Das Zigeunerviertel brannte. Wir konnten den Feuerteufeln bei der Arbeit zusehen: junge Albaner, die mit Benzinkanistern die staubige Straße hinunterliefen und ein Haus nach dem anderen in Schutt und Asche setzten. Niemand leistete Widerstand, niemand löschte. Inmitten der rauchenden Trümmer stand ein etwa 60jähriger Mann. Von Beruf war er Bäcker, doch der Albaner ähnelte eher einem Schornsteinfeger.

Seine Hände, mit denen er die zerschossene Eingangspforte seiner Konditorei festhielt, waren schwarz vor Ruß. Selbst in seinen Augenbrauen, die er wachsam nach oben zog, wenn jemand sein Grundstück passierte, klebte Asche. Der Bäcker hatte seelenruhig zugesehen, wie die Täter in der Fabricka-Straße Feuer in die Häuser seiner früheren Kunden gelegt haben. Die Täter seien "Albaner, die nichts mehr haben. Sie brauchen diese Rache", sagte er. Das Roma-Viertel lag im Beritt der Franzosen. Sie sollten hier eigentlich für Ordnung sorgen. "Wir haben einfach zuwenig Leute", erklärte uns ein braungebrannter Sergeant, der seinen Kontrollposten mit einigen Männern in den Trümmern einer Kneipe bezogen hatte. Der Billardtisch war heil geblieben, und während 30 Meter weiter eine Fensterscheibe vor Hitze zersprang, versenkte ein Soldat gerade die schwarze Acht im Pool. Alexander, der als Dolmetscher alles mitverfolgte, verlor in diesem Moment alle Hoffnung, die er auf den Westen als faire Ordnungsmacht des Balkans gesetzt hatte.

Ein alter Mann, den wir auf der Brücke über den Ibar interviewten, prophezeite uns: "Mitrovica wird sein wie Berlin", sagt er, "unsere Mauer ist der Fluß." Die Situation war reichlich kompliziert: Weil viele Albaner nicht in ihre Wohnungen am rechten Ufer des Ibar durften, zogen sie nun in die Wohnungen von Serben, die im albanischen Teil gewohnt hatten und sich seit dem Einmarsch der KFOR nicht mehr über die Brücke trauten.

Lesen Sie im dritten und letzten Teil, warum Alexander die Nummer 1111 trägt - und was sie bedeutet.

Um Frieden zu halten, produzierten die Besatzungssoldaten neue Ungerechtigkeiten. So zementierte die KFOR die ethnische Teilung, die sie eigentlich verhindern wollte. Wir liefen an den Posten vorbei über die Brücke. Auch die junge albanische Dolmetscherin war mitgekommen. Sie mochte Alexander nicht. Aber weil sie im serbischen Teil in seiner Begleitung sicherer war, wich sie ihm nicht von der Seite. Sie war fest davon überzeugt, daß sich die Serben und Franzosen in Mitrovica gegen die Albaner verbündet hatten. Das sehe man schon an den Nationalfahnen. "Es sind die gleichen Farben, rot, weiß und blau. Das sagt doch alles!" empörte sie sich. Im Café Dolce Vita auf der nördlichen Seite der Brücke im serbischen Viertel warteten die Gäste nur auf einen Anlaß für neuen Streit. Schon morgens um zehn saßen die serbischen Männer auf billigen Plastikstühlen bei einer Flasche Bier, nachmittags waren die ersten betrunken. Die Stühle und Tische waren auf den albanischen Stadtteil und die Brücke ausgerichtet; ein Logenplatz für ein Schauspiel, das damals die ganze Welt bestaunte.

Dolce Vita, Bier und Cetniks

Das Dolce Vita war der Vorposten der serbischen Paramilitärs. Alles, was hier passierte, meldeten sie per Funk an ihre Kommandozentrale weiter. Junge Serben kontrollieren die Habe von Albanerinnen, die in der einzigen betriebstüchtigen Bäckerei im Norden der Stadt eingekauft hatten und konfiszierten "serbisches Brot". Unter den Augen der Franzosen verlangten sie Ausweisdokumente von Passanten. In manchen Hauseingängen wachten bewaffnete Kerle, die Albaner mit Pistolen verjagen, wenn sie in ihre Wohnungen wollten. Vielleicht hört es nie auf, dachte ich. "Den nächsten Albaner, der hier lang läuft, werde ich abknallen!" prahlte ein Bursche im Café. Ein anderer holte derweil eine serbische Flagge heraus, ein Dritter bestellte eine neue Runde serbisches Bier der Marke BiP. Alexander fühlte sich in der Gesellschaft seiner Landsleute nicht wohl, das Gehabe dieser Säufer und Maulhelden war ihm peinlich. Er schlug vor, einen befreundeten Musiker zu besuchen, der ein paar Blocks weiter lebte. "Ein Serbe?" fragte ich. "Ja, aber er ist Jazz-Musiker und spielt mit Albanern in einer Band. Jazz bringt die Menschen zusammen!" sagte Alex streng, so, als hätte ich das immer noch nicht kapiert.

Wir klingelten bei Alexanders Freund, doch er war nicht zu Hause. Dann setzten wir uns in ein Café namens Black Lady. Es lag in einer kleinen Nebenstraße, wo die KFOR-Patrouille selten hinkam. Wir bestellten Kaffee und beobachteten eine Gruppe Männer am Nebentisch. Sie feierten einen der Ihren als "lebende Legende und Held des serbischen Widerstands". Er war in Alexanders Alter, unrasiert und setzte auch im Schatten seine Sonnenbrille nicht ab. Der Mann sprach wenig, und wenn er etwas sagte, dann Sätze wie: "Es gibt noch immer zu viele Scheiß-Albaner in unserem Viertel." "Ich bin ein Cetnik!" rief sein Nachbar und spreizte drei Finger zum serbischen Siegeszeichen. Seine Kleidung war pechschwarz wie sein Vollbart. Die UCK, behauptete er, habe seinen Vater ermordet. "Ich will Rache!" rief er und bestellte noch ein Bier. Dann schaute er tief ins Glas und seufzte: "Was kann ich tun? Ich kann nur noch trinken." Alexander waren diese Typen, deren böse Banalitäten er gerade übersetzt hatte, zuwider. Aber viele Albaner hielten ihn für genau so einen Killer; egal, ob er persönlich schuldig war oder nicht.

Wir verließen Mitrovica bei Dämmerung. Auf der Rückfahrt sahen wir im Norden lauter Blitze vom Himmel regnen, aber es donnerte nicht. Wolken waren auch nicht zu sehen, deswegen konnte man ein Gewitter ausschließen. Diese merkwürdigen Erscheinungen verstörten die Menschen seit Wochen, berichtete Alexander, die Blitze müßten irgend etwas mit dem Krieg zu tun haben, niemand wisse Genaues. Am nächsten Abend schleppte mich Alexander in ein Jazz-Konzert. Bevor wir uns auf den Weg machten, erklärte mir Alexander die Regeln, die ein Serbe befolgen müsse, um in Pristina im Sommer 1999 am Leben zu bleiben.

"So what"

Ein befreundeter Albaner hatte ihm die Tips gegeben. Sprich niemals Serbisch. Rede Englisch. Besorg dir internationale Ausweise der UNO und der KFOR (Er besaß außerdem einen Presseausweis, den ich für ihn organisiert hatte). Bleibe immer in der Nähe von Ausländern (Jetzt verstand ich, warum Alex mich jeden Abend fragte, ob ich ihn begleiten würde). Treib Geld auf, und dann sieh zu, daß du hier weg kommst. Alexander befolgte die Regeln, so gut es ging. Und obwohl er die Jazz-Musiker in der fensterlosen Kaschemme, die wir besuchten, alle kannte, grüßte er sie nicht. Es war zwar gefährlich, ein Serbe in Pristina zu sein. Noch gefährlicher aber lebte ein albanischer Pianist, der einen serbischen Freund hatte, ganz egal, ob der 2000 Jazz-CDs besaß oder nicht. Also saßen Alexander und ich stumm in der Jazz-Bar, hörten zu, wie die Musiker vorne Girl from Ipanema improvisierten und bestellten auf Englisch einen albanischen Brandy.

Plötzlich kam der Kellner. Er flüsterte ängstlich: "Da vorne sitzt ein UCK-Typ, der hat dich erkannt." Ein Schrecken durchzuckte Alexander. Und dann konnte ich ihm dabei zusehen, wie er allen Mut zusammennahm, den er in seinen 31 Lebensjahren gesammelt hatte. Alexander, umgeben von Albanern, sagte laut und deutlich auf Serbisch: "So What! Sag den Jungs da vorne, sie sollen So What von Miles Davis spielen." Im Lokal wurde es still. Dann geschah das Unglaubliche: Der UCK-Offizier setzte sich zu uns und spendierte Alexander ein Bier. Bis tief in die Nacht schwärmten die beiden von Billy Holiday, Chick Chorea und Nina Simone, und zum Schluß fuhr der Albaner den Serben persönlich nach Hause. "Soll ich dich jetzt umbringen oder erst beim nächsten Konzert?", fragte er zum Abschied und klopfte Alex lachend auf die Schulter.

Dieses Erlebnis machte Alexander Mut; ich reiste beruhigt zurück nach Berlin. Die Begegnung der beiden Jazz-Fans wäre ein schöner Schluß für diese Geschichte; aber leider ist sie noch nicht zu Ende. Ein paar Wochen später kehrte ich in den Kosovo zurück. Am 11. August beobachtete ich durch ein Glas Wasser und eine Glasscherbe die Sonnenfinsternis in Mitrovica. Photo-Moma und seine Bildergalerie waren spurlos verschwunden, sein Laden war leer, die KFOR hatte den Shop zu einem Posten umfunktioniert. Die Soldaten hatten am Grenzübergang vor beiden Seiten der Brücke dreimal soviel Stacheldraht ausgerollt wie bei meinem letzten Besuch. Kaum war ich am Checkpoint der Brücke angekommen, gab es Krawalle, ein kleiner Albanerjunge wurde dabei vom Stacheldraht verletzt. Er blutete stark, doch so etwas geschah hier jeden Tag.

Ich traf Alexander am selben Abend in der Kukri-Bar. Es war mein Geburtstag und wir feierten ein bißchen. Der Neuseeländer gab eine Runde aus. Alex erzählte mir, daß er aus Pristina verschwinden wolle. Ich war erleichtert. Das kleine Apartment seiner Eltern im 5. Stock müsse er aber noch verkaufen, denn ohne Geld käme man in Belgrad nicht weit. Am Tag darauf rief er mich abends noch einmal auf meinem Zimmer im Hotel an und fragte, ob ich Zeit hätte. Ich sagte nein. "Not even for a beer?", fragte Alex. Doch ich mußte meine Geschichte schreiben, der Redaktionsschluß nahte. Ich fühlte mich mies, weil ich Alex die Bitte abschlug. Es war das letzte Mal, daß ich seine Stimme hörte. Am Samstag, dem 21. August 1999, hatte ihn sein Vater bei der KFOR und einer Menschenrechtsorganisation als vermißt gemeldet. Alex war nachts nicht nach Hause gekommen. Auch seine Freunde hatten ihn seit dem vergangenen Abend nicht mehr gesehen. Ich nehme an, daß Alex ein Jazz-Konzert besuchen wollte, denn die fanden meistens freitags statt. Und ich bin sicher, daß er seinen Walkman dabeihatte. Meistens hörte er Kind of blue von Miles Davis.

Claquere des Terrors

Ein paar Wochen später habe ich beobachtet, wie ein Serbe abends von einem albanischen Mob durch die Straßen von Pristina gejagt wurde. Hundert Männer schlugen den jungen Kerl blutig, sie begruben ihn unter sich wie eine Welle. Die Albaner, ganz normale Passanten ebenso wie UCK-Kämpfer, wollten den jungen Mann zu einem Parkplatz schleppen, ihn dann in den Kofferraum eines Autos werfen und dann vor den Toren der Stadt per Genickschuß erledigen. So lief das damals im befreiten Kosovo, 100 Meter vom UNO-Gebäude entfernt. Aber am furchtbarsten erschienen mir die Krähen, die seit Tagen im graublauen Himmel der kosovarischen Hauptstadt hingen. Als die Welle losbrach und über den Kerl schwappte, verließen die Vögel ihre Alleebäume und lärmten los wie Claqueure des Terrors.

Sie haben sich lustig gemacht und der Meute applaudiert, sie regelrecht angefeuert. Ich hatte einen Interviewtermin mit einem Kommandeur im Hauptquartier der UCK und schlenderte vom sogenannten Grand-Hotel aus los, als ich bemerkte, daß rings um mich alles rannte. Ein Stimmenwirrwarr, das zum Johlen wurde. Es dauerte Minuten, bis ich begriff, daß vor meinen Augen ein Mensch getötet werden sollte. Der Mann war übrigens nicht mal ein echter Serbe, er hatte bloß auf die Frage einiger Kinder, wie spät es sei, auf Serbisch geantwortet. Ich stand starr, suchte in meiner Umgebung irgendein verständiges Gesicht. Hunderte Menschen waren auf der Straße. Niemand half, fast alle hetzten hinterher, manche lachten. Nie in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Ich wußte bereits, daß in dieser Gegend ein Menschenleben nicht viel zählte. Aber der Ermordung eines Menschen beizuwohnen ist etwas ganz anderes, als hernach die Gräber von Opfern zu besichtigen oder Ruinen zu bestaunen.

Endlich sahen wir eine britische KFOR-Patrouille, sechs Soldaten rannten auf 150 Mörder los. Die jungen Briten, kaum 20 Jahre alt, luden durch. Sie hatten Angst, weil der Mob so groß war. Sie riefen: "Bastards. Fuck you." Sie haben den armen Kerl rausgeholt, sein Gesicht war blutig und sein Blick flackerte wie eine Kerze im Wind. Er hat überlebt, aber auf der Wache, in die man ihn gerettet hatte, wirkte er trotzdem wie tot. Von Alex fehlte jede Spur. Ich hielt seinen Tod für wahrscheinlich, aber vielleicht hatte man ihn ja auch gefangengenommen? Ein paar Monate später traf ich in einer Bar in Pristina einen Deutschen, der während des Krieges auf albanischer Seite gekämpft hatte. Später wurde er deshalb von einem deutschen Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil Deutschen das Kämpfen in fremden Armeen verboten ist. Doch das war mir damals egal. Der Kerl verfügte über exzellente Verbindungen in die UCK. Ich fragte ihn nach Alexanders Schicksal. Am nächsten Abend fand ich in meinem Hotelfach eine anonyme Nachricht. Auf einem Zettel stand zu lesen: "Euer Mann ist tot."

Irgendwann hat Alex, mit dem ich nur ein paar Monate befreundet sein durfte, gesagt: "I missed my time for 40 years." 1959 wäre seine Zeit gewesen, als Alben wie die von Miles Davis erschienen, auf denen Jazzer aus wenig Tönen große Musik machten. Wenn man die alten Sachen auflegt, kann man den Trompeter manchmal denken hören: "Jetzt wäre es eigentlich besser, gar keinen Ton mehr zu machen. Aber gut, das Publikum würde das vielleicht nicht verstehen..." Und dann kommt ein heiseres Tut-Tut.

Auf der von der serbischen Regierung veröffentlichten Liste der "getöteten und entführten Serben im Kosovo seit dem Einmarsch der KFOR" trägt Alexander Simovic die Nummer 111. Es gibt keine Leiche, also auch keinen Grabstein. Aber es gibt ein Stück von Miles Davis, 18 Minuten und 16 Sekunden lang. Es heißt: Shhh/Peaceful.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten