
Richard McGuires Comic "Hier": Zeit und Raum in Bildern festhalten
Comic "Hier" über Zeit und Raum Eine erzählerische Offenbarung
In den Hochtagen der alternativen Comickultur, als die Hefte noch sehnsüchtig am Kiosk erwartet wurden und eine ganze Generation neuer Zeichner dem Genre ihren Stempel aufdrückte, gab es noch Raum für Magazine wie RAW, herausgegeben von Comiclegende Art Spiegelman ("Maus") und Françoise Mouly. RAW war das Flaggschiff der Alternativcomics, die Sammlung erschien von 1980 bis 1991 jährlich im Herbst und bot Zeichnern aus den USA und Europa eine Bühne für ihre Comics.
Vor 25 Jahren erschien darin eine Kurzgeschichte, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Struktur für große Begeisterung sorgte. 36 Panels genügten Richard McGuire, um eine kleine Comicrevolution zu erschaffen, ein ganzes Universum auf sechs schwarz-weißen Seiten. Die Idee war simpel: die Zeitgeschichte an einem einzelnen Ort vorbeiziehen zu lassen. Jetzt erscheint diese Kurzgeschichte auf 300 Seiten als auserzählte Graphic Novel. Sie hat in 25 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren.
McGuire ist ein Mensch, der sich ebenso geschmeidig zwischen Genres bewegt wie seine Geschichte zwischen Raum und Zeit. Er arbeitet als Illustrator und ist Bassist der Postpunkband Liquid Liquid, seine Zeichnungen erscheinen im "New Yorker" und in "Le Monde", er schrieb Kinderbücher und animierte Kurzfilme. Aber sein bekanntestes Werk ist nach wie vor dieser kleine Comicstrip, den er vor einem Vierteljahrhundert in RAW veröffentlichte.
Das menschliche Verständnis von Zeit in Bilder fassen
Denn "Hier" ist nichts weniger als der Versuch, das menschliche Verständnis von Zeit in Bilder zu fassen. Auch in der Langversion springt McGuire vor dem immer gleichen Setting in der Zeit hin und her, lässt Handlungen überlappen und parallel laufen. Während im Hintergrund im Jahr 1763 der Wald dort gerodet wird, wo einmal das Haus der Gegenwart stehen wird, erzählt man sich auf dem Sofa im Vordergrund 1989 einen Ärztewitz. Eine Seite später arrangiert die Mutter an gleicher Stelle ein Familienfoto im Jahr 1959.
"Hier" ist auch eine amerikanische Familienchronik, in gewisser Weise sogar eine persönliche. Denn McGuire kehrt immer wieder zurück zu seinem Geburtsjahr 1957, um zu zeigen, wie subjektiv unser Zugang zu Geschichte und dem Konzept von Zeit und Raum im Wesen ist. Mit einfachsten Mitteln zieht McGuire weite Kreise durch die Menschheitsgeschichte, lässt Parallelwelten entstehen und Zusammenhänge erahnen.
Alles Menschliche streift an der Szenerie vorbei
Es sind Miniaturen, die doch präzise Kleingeschichten erzählen. Manchmal streckt sich ein Dialog über mehrere Seiten, ab und zu tauchen Figuren wieder auf, andere sind nur flüchtige Einblicke in den Lauf der Geschichte: Weihnachtsbäume, Geburten, Paarstreit, Todesfälle, alles Menschliche streift an der Szenerie vorbei, ist gleichzeitig Gegenwart und Vergangenheit. McGuire zeigt Parallelen zwischen den Jahrhunderten auf, oft auch mit einem feinen Gespür für das Absurde.
Seine Art des Erzählens stellt nicht nur klassische Handlungsabläufe einer Erzählung infrage, sondern darüber hinaus auch unser begrenztes Verständnis von Zeit als Dimension. In der Berichterstattung ist McGuire alles gleichwertig, die Besiedlung durch die Indianer genauso wie die flüchtige Begegnung mit einem Urtier oder das Reißen eines Schnürsenkels.
Wem sich bei "Interstellar" die Synapsen verbogen haben, der wird sich vielleicht auch mit dem Raum-Zeit-Kontinuum in "Hier" nicht so recht anfreunden können. Für alle anderen ist McGuires Buch eine erzählerische Offenbarung.