Cosy-Crime-Phänomen Richard Osman »Fast jeden Tag sprechen mich Leser auf der Straße an«

In Großbritannien lesen Millionen seine Bücher. Hier redet Richard Osman über Humor im Krimi, die englische Klassengesellschaft – und seinen Bruder, Musiker in einer bekannten Britpop-Band.
Ein Interview von Marcus Müntefering
Bestsellerautor Osman in einer BBC-Show: »Im Fernsehen bin ich eher zufällig gelandet«

Bestsellerautor Osman in einer BBC-Show: »Im Fernsehen bin ich eher zufällig gelandet«

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Jonathan Hordle / empics / picture alliance

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Vier Rentner, hoch in ihren Siebzigern, Einwohner einer recht luxuriösen Seniorenresidenz in der englischen Provinz, sind die Nachfolger von Harry, Hermine und den anderen Zauberlehrlingen aus der »Harry Potter«-Reihe. »Der Mann, der zweimal starb«, die gerade auf Deutsch erschienene Fortsetzung von Richard Osmans Erfolgsbuch »Der Donnerstagsmordclub«, ist in Großbritannien einer der am schnellsten verkauften Romane.

Eine ziemliche Sensation, denn Rentner mit dem Hobby Mord, das klingt erst einmal verstaubt und altbacken. Cosy Crime nennt man die Art Kriminalromane, die meist auf dem Land spielen und weniger Thrill als Gemütlichkeit – in manchen Fällen auch: Gähnen – verbreiten. Richard Osmans Kunst besteht darin, Spannung und Humor mit einer dritten Zutat zu vermischen: Er wolle, sagte er im über Zoom geführten Interview, Menschen ein gutes Gefühl beim Lesen geben, aber eben nicht, indem er die Realität ausblendet.

Vor allem aber sind es seine Figuren, die den Reiz dieser Romane ausmachen. Jenseits des Klischees von liebenswerter Schrulligkeit besitzen sie große Eigenständigkeit, und auch wenn sie aufgrund ihres hohen Alters mit einem Bein im Grab stehen mögen: mit dem anderen stehen sie noch verdammt fest im Leben. Und in diesem Leben finden sie eine neue Bestimmung: Mordfälle zu lösen. In »Der Mann, der zweimal starb« bekommen sie es mit dem internationalen organisierten Verbrechen und einigen ziemlich dubiosen Mitgliedern des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5 zu tun.

SPIEGEL: Mr Osman, Ihr Buch »Der Donnerstagsmordclub« erschien im September 2020. Das Coronavirus hatte bis dahin schon viele Todesopfer gefordert, vor allem in Altersheimen. Glauben Sie, dass Ihre Geschichte von vier lebenslustigen Rentnern, deren größtes Problem die Langeweile ist, gerade deshalb so erfolgreich wurde, weil sie eine Alternative zur grausamen Realität anbot?

Richard Osman: Nein, ich glaube nicht, dass Corona etwas mit meinem Erfolg zu tun hat, außer dass seit Beginn der Pandemie mehr Menschen lesen, was natürlich großartig ist. Ich habe, und das ist eher die Erklärung, Menschen in ihren Siebzigern zu meinen Helden gemacht, also Menschen, die in unserer Gesellschaft oft fast unsichtbar sind und ignoriert werden und die das Gefühl haben, dass das Leben nicht mehr viel bereithält für sie.

SPIEGEL: Wie kamen Sie auf die Idee?

Osman: Menschen dieses Alters haben gelernt, mit dem Tod zu leben und damit, dass ihre Körper nicht immer so funktionieren, wie sie sollten. Gleichzeitig sind sie die gebildetsten und weisesten Menschen, die ich kenne. Sie wollte ich feiern und vor allem, und das gefällt vielen meiner Leser, wollte ich auf keinen Fall Stereotypen zeigen – ältere Menschen werden allzu oft als lustig und leicht lächerlich dargestellt –, sondern echte Menschen mit echten Problemen und echten Schmerzen. Meine Bücher sagen, und das ist mir sehr wichtig, dass es egal ist, wie alt du bist: Du kannst aufregende Dinge erleben und neue Freunde finden, wenn du nicht aufgibst.

SPIEGEL: Haben Sie also vor allem ältere Leser, für die Ihre Romane Trost und Versprechen sind?

Osman: Nein. Fast jeden Tag sprechen mich Leser auf der Straße an. Und anfangs hatte es mich auch überrascht, wie jung viele von ihnen sind. Sie sagen mir dann, dass sie, wenn sie älter sind, auch so sein wollen wie meine Figuren.

SPIEGEL: Dass Sie in der Öffentlichkeit erkannt werden, liegt auch daran, dass Sie in Großbritannien schon lange als TV-Moderator bekannt sind. Wir führen dieses Interview während Ihrer Mittagspause beim Dreh neuer Folgen von Ihrer Show »House of Games«. Ein Doppelleben als TV-Star und Bestsellerautor, das klingt stressig.

Osman: Ich möchte auf jeden Fall noch mehr Zeit mit dem Schreiben von Romanen verbringen, weil es das ist, was ich wirklich liebe. Im Fernsehen bin ich eher zufällig gelandet, und eigentlich bin ich auch nicht der extrovertierte Typ. Viel lieber mag ich es, am Computer zu sitzen und mir Geschichten auszudenken, die Menschen zum Lachen oder Schaudern bringen. Mein Vorteil ist, dass die TV-Shows innerhalb von drei Monaten aufgezeichnet werden, sodass ich neun Monate im Jahr Zeit habe, daran zu arbeiten, die neue Agatha Christie zu werden.

SPIEGEL: Sie spielen auf die vielen Vergleiche mit der britischen Krimikönigin an, deren Romane sehr häufig in der britischen Provinz spielen, wie auch Ihre. Ist Christie ein Vorbild für Sie?

Osman: Unbedingt, denn sie konnte nicht nur spannend erzählen, sondern hatte auch viel über die menschliche Natur und das England ihrer Zeit zu sagen. Ihre Romane und Figuren sind dabei so überaus britisch. Wir sind die höflichsten Menschen der Welt, sagen aber nie, was wir wirklich denken. Unter der höflichen Oberfläche lauert oft genug das Böse: Für Krimiautoren ist das ein Geschenk.

»Mein Großvater war ein extrem linker Polizist, der sich weigerte, gegen streikende Bergarbeiter vorzugehen.«

SPIEGEL: Wer hat Sie noch beeinflusst?

Osman: Ach, da gibt es viele, Patricia Highsmith zum Beispiel oder Ian Rankin. Aber eines der größten Genies ist für mich Stephen King. Wenn sich in ein paar Hundert Jahren Menschen über die großen amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts unterhalten, werden sie nicht über Saul Bellow,…

SPIEGEL: …den Literaturnobelpreisträger, dessen Romane wie »Herzog« zum Kanon der Weltliteratur gehören…

Osman: …sondern über Stephen King sprechen. Er hat wahnsinnig unterhaltsame Geschichten geschrieben, seine eigentliche Stärke aber ist, dass er so viel über die USA und das Leben der Menschen dort zu erzählen hat.

SPIEGEL: Ihre Romane können aber durchaus als gemütliche Rätselkrimis gelesen werden, oder?

Osman: Ja, ich mag Rätsel. Aber eigentlich schreibe ich über das moderne Großbritannien. Ich will zeigen, wie Menschen miteinander umgehen, was ihre Werte sind und woher sie kommen. Aber ich mache das nicht allzu offensichtlich, weil dann niemand meine Bücher kaufen würde.

SPIEGEL: Sie mischen Spannung und Humor, was im Krimigenre selten gut klappt. Wie haben Sie diesen Spagat geschafft?

Osman: Indem ich es gar nicht erst versucht habe. Meine Regel beim Schreiben war: keine Witze. Denn ich will in erster Linie spannende Bücher schreiben, voller Rätsel und interessanter Figuren. Und genau diese Figuren sind es, die den Humor in meine Bücher bringen. Manchmal merke ich erst, wie lustig eine Passage geworden ist, wenn ich sie noch einmal lese.

SPIEGEL: Ihre Helden beschäftigen sich mit Mordfällen, weil sie etwas Abwechslung brauchen, einen Kick im Leben. Hat die Beschäftigung mit dem Tod anderer auch etwas damit zu tun, mit der eigenen Sterblichkeit umzugehen?

Osman: Meine Mutter, die wie meine Figuren in ihren späten Siebzigern ist, hat aufgrund ihres Alters oft mit dem Tod zu tun. Für sie hat das Sterben nichts Spirituelles, sie ist da abgeklärter als zum Beispiel die Sorte Schriftsteller, die ihre ganze Karriere auf einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit aufgebaut haben. Meine Figuren sind eher wie meine Mutter, also ziemlich pragmatisch. Und durch ihr Hobby, Mord, verliert der Tod noch ein bisschen mehr seinen Stachel.

SPIEGEL: Ist Ihre Mutter auch ein konkretes Vorbild für eine Ihrer Figuren?

Osman: Ja, ein bisschen für Joyce, die frühere Krankenschwester. Meine Mutter war ihr Leben lang – wir kommen aus nicht besonders privilegierten Verhältnissen – von Menschen umgeben, die sich oft heftig und laut gestritten haben. Und während alle um sie herum rumbrüllten, schwieg sie, hörte zu und hat am Ende den anderen gesagt, wer recht hat und wer nicht. So ist auch Joyce, eine scheinbar naive Frau, die aber alles im Blick hat und messerscharf kombinieren kann.

SPIEGEL: Eine ehemalige MI5-Agentin wie Ihre Figur Elizabeth haben Sie aber nicht in der Familie, oder?

Osman: Nein, sie ist mir als Autor nützlich, weil sie eine Spionin war, sie bringt also viel Erfahrung mit sich, wenn es um Mord geht. Außerdem fand ich es reizvoll, dass sie als Frau sich in einem männerdominierten Beruf durchsetzen musste, was ihr eine harte Schale verpasst hat. Und das Schöne ist, zu sehen, wie diese Schale durch die Zuneigung der anderen drei aus dem »Donnerstagsmordclub« langsam immer mehr Risse bekommt.

»Die Welt, wie sie uns durch die sozialen Medien vermittelt wird, ist eine sehr gespaltene Welt, in der es nur gut oder böse zu geben scheint.«

SPIEGEL: Neben den beiden Frauen gibt es noch Ibrahim, den Psychologen, und Ron, einen ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten. Was repräsentiert Ron in Ihrer Romanwelt?

Osman: Sie können als Brite keinen Roman schreiben, in dem es nicht auch um Klassenunterschiede geht. Deshalb war mir immer klar, dass zwei meiner Helden, Elizabeth und Ibrahim, aus der gehobenen Mittelklasse kommen müssen und die beiden anderen, Joyce und Ron, aus der Arbeiterklasse. Ron hat früher gegen den neoliberalen Umbau Großbritanniens gekämpft und steht für einen großen Teil von Briten, die auch heute noch gegen den Thatcherismus und seine Folgen und für gesellschaftliche Solidarität sind. Ich bin in einer sehr sozialistisch geprägten Familie aufgewachsen, mein Großvater war ein extrem linker Polizist, der sich zum Beispiel weigerte, gegen streikende Bergarbeiter vorzugehen. Und so steckt viel von mir und meiner Familiengeschichte in Ron, wir sind beide davon überzeugt, dass es unrecht ist, dass einige wenige Menschen Milliarden mit der Ausbeutung vieler anderer verdienen.

SPIEGEL: Sie haben als TV-Moderator den Ruf, extrem nett zu sein, sich etwa nie über Ihre Kandidaten lustig zu machen. Diese Menschenfreundlichkeit merkt man auch Ihren Romanen an.

Osman: Die Welt, wie sie uns durch die Medien, vor allem die sozialen Medien, vermittelt wird, ist eine sehr gespaltene Welt voller Hass, in der es nur noch richtig oder falsch, gut oder böse zu geben scheint. Aber das entspricht nicht dem, was ich erlebe, wenn ich unterwegs bin und Menschen treffe. Ich will niemanden belehren oder Menschen gar vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben, aber in einer Welt, wo so vieles auf Unwahrheiten beruht, will ich zumindest auf der Seite der Guten lügen und über eine Welt schreiben, in der nicht Dogmatiker das Sagen haben.

SPIEGEL: Sie haben schon von Ihrer Mutter und Ihrem Großvater gesprochen, das bekannteste Mitglied Ihrer Familie war aber lange Ihr Bruder Mat, der in den Neunzigern als Mitgründer und Bassist der Britpop-Band Suede zum Star wurde. War sein Erfolg ein Antrieb für Sie oder gab es Konkurrenz zwischen den Brüdern?

Osman: Er ist ein paar Jahre älter als ich und war immer schon und wird immer mein Held sein. Wenn man wie ich aus einer Familie kommt, die weder Geld noch einen Medienbackground hat, und sieht, wie Mat und seine Freunde von Suede mit ihrem Talent und harter Arbeit so viel erreichen können, ist das natürlich eine Inspiration. Wir haben uns nie als Konkurrenten gesehen, auch jetzt nicht, wo er selbst Schriftsteller ist. Seine Romane sind auch ganz anders als meine. Brillant, aber anders.

SPIEGEL: Schreiben Sie weitere Romane mit Joyce, Elizabeth und den anderen?

Osman: Ich arbeite gerade an meinem dritten »Donnerstagsmordclub« und habe einen Vertrag über insgesamt vier Romane in der Reihe. Ich werde bestimmt noch mehr als diese vier schreiben, aber ich möchte dann erst einmal eine Idee für eine weitere Krimireihe mit einem etwas traditionelleren Detektiv umsetzen.

SPIEGEL: Ihr erster Roman wurde von Steven Spielberg optioniert. Sind Sie in die Verfilmung involviert?

Osman: Ich weiß nur, dass die Dreharbeiten in diesem Jahr sein sollen, habe aber zum Glück nichts damit zu tun. Wer bin ich, dem Regisseur von Klassikern wie »E.T.« Ratschläge zu erteilen?

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