Der Roman "Cloris" von Rye Curtis Blut und Bibel

Abenteuergeschichte und Seelenerkundung zugleich: In "Cloris" von Rye Curtis muss eine alte Frau allein in der Wildnis überleben. Ein fast makelloser Roman.
Rocky Mountains in den USA: Der Wunsch, in der Natur zu verschwinden

Rocky Mountains in den USA: Der Wunsch, in der Natur zu verschwinden

Foto: iStockphoto/ Getty Images

Cloris Waldrip ist gerade in einen ziemlich slapstickhaften und für sie überraschend blutigen Kampf mit einer Zecke verwickelt, als sie merkt, dass der Holzhaufen neben ihr plötzlich brennt. Dabei hatte sie beim Aufstapeln festgestellt, dass sie keine Ahnung hat, wie man Feuer macht. Hat etwa das Beten geholfen? Aber, so die überaus überzeugte Methodistin Cloris, "eine so konkrete Antwort auf ein Gebet" gab es "wohl nicht mehr seit der Speisung der 5000". Eine andere Erklärung: Ist sie nicht allein hier in der Wildnis? Ist der Mann im Kapuzenpulli, den sie gestern Nacht während des Gewitters gesehen zu haben glaubte, real? Und vor allem: Bedeutet er Rettung oder Gefahr? Oder hat sie doch den Geist der Mitte des 19. Jahrhunderts ermordeten Transfrau Cornelia Akersson getroffen, die hier spuken soll? 

Cloris ist 72 Jahre alt, Texanerin und seit ein paar Tagen Witwe. Ihr Mann starb bei dem Absturz einer Cessna in den Bitterroot Mountains, einem Gebirgszug im Nirgendwo zwischen Idaho und Montana, ebenso wie der Pilot. Letzterer murmelte im Todeskampf permanent Zeilen aus dem Lied "Time After Time" von Cyndi Lauper - Rye Curtis' Debütroman "Cloris" spielt im Jahr 1986. Auch Cloris war mit an Bord, überlebte aber als einzige den Crash. Der Song wird zum Leitmotiv. 

Cloris ist fortan allein, mit nur ein paar Karamellbonbons in der Tasche und keinerlei Survival-Skills - insgesamt keine guten Aussichten für die ehemalige Bibliothekarin, deren behütetes Leben bislang das Gegenteil einer Extremsituation war. Aber immerhin: Ihr Mann, der kurz vor dem Aufprall aus dem Flugzeug in eine Baumkrone geschleudert wurde, verlor einen seiner Stiefel aus wasserdichtem Alligatorenleder, und dieser Stiefel dient Cloris als überlebenswichtiges Trinkgefäß, in dem sie Regenwasser sammelt. 

Curtis erzählt Cloris' monatelanges Martyrium aus der Ichperspektive der alten Frau, die zunächst nicht aus der Wildnis herausfindet und irgendwann gar nicht mehr weiß, ob sie überhaupt noch zurückwill in die Zivilisation. Bei aller Dramatik der Handlung - Cloris trotzt Unwettern, wilden Tieren, Feuern und dem Hunger - ist der Roman von einer teilweise makabren Komik. Die bibeltreue Cloris neigt in ihrer possierlichen Rechtschaffenheit zu skurrilen Vergleichen und Metaphern: "Nur noch so viel Blut und Knochen waren daran", beschreibt sie das Gesicht des toten Piloten, "wie nach einem Picknick an einem Stück Wassermelone übrigbleibt." Und als sie einmal stolpert und aufs Gesicht fällt, heißt es: "Getrocknetes Blut platzte von meiner Stirn wie Farbe von einem alten Präriehaus."

Oberflächliche Komik und tiefe Tragik

Der Mensch, der in der Natur sein wahres Ich findet, ist ein klassischer Topos vor allem in der US-amerikanischen Literatur. Doch Mensch, das hieß in der Vergangenheit allzu oft Mann. Dass es auch anders geht, zeigte zuletzt Delia Owens mit ihrem Weltbestseller "Der Gesang der Flusskrebse". Rye Curtis hat mit Cloris Waldrip eine ähnlich unvergessliche Figur geschaffen wie Owens mit dem Marschmädchen Kya - mit dem Unterschied, dass Cloris den Großteil ihres Lebens bereits hinter sich hat. Und so ist Curtis' Roman weit weniger versöhnlich. Cloris' sich langsam entwickelnder Wunsch, in der Natur zu verschwinden, entspringt nicht einer zunehmenden Symbiose wie bei Owens, sondern einer Entfremdung von ihrem früheren Leben, das sie, so wird Cloris immer klarer, nie richtig gelebt hat. 

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Cloris

Autor: Rye Curtis
Übersetzung: Cornelius Hartz
Hersteller: C.H.Beck
Seiten: 352
Für 24,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

29.03.2023 07.22 Uhr

Keine Gewähr

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Dieses Gefühl verbindet Cloris mit der anderen Hauptfigur des Romans, der Parkrangerin Debra Lewis, die in einer parallelen zweiten Erzählebene auf der Suche nach Cloris ist. Nach einer gescheiterten Ehe befindet sich ihr Leben am Nullpunkt: Sie trinkt ununterbrochen billigen Merlot aus einer Thermoskanne, hört obsessiv eine Psychoratgebersendung im Radio und rutscht in eine bizarre Beziehung mit einem Mitglied des Suchteams, obwohl sie eigentlich in dessen Tochter verliebt ist. Lewis kommt in ihrer Sturheit wie die verzweifelte Schwester der Polizistin Marge aus dem Coen-Brüder-Film "Fargo" daher. Letztlich am Leben hält sie nur noch diese Suche, so aussichtslos sie zu sein scheint (und letztlich auch ist). Doch Lewis wird Cloris nicht finden. Als sie schließlich in ein neues Leben aufbricht, ist unklar, ob es ein Besseres sein wird. 

Um seine beiden Heldinnen herum arrangiert Curtis kunstvoll eine Reihe von Figuren in verschiedenen Stadien der körperlichen und seelischen Versehrtheit. Verlorene und Verlierer, die sich selbst ein Mysterium sind (und bleiben) und die er ohne Sentimentalität, aber voller Empathie zeichnet. So entsteht ein fast makelloser Roman, zugleich Abenteuergeschichte und Seelenerkundung, dessen oberflächliche Komik sich aus tiefer Tragik ableitet und bei dem sich philosophische Weltbetrachtung und Nature Writing famos ergänzen. Und wenn es wahr ist, was Cloris einmal sagt - dass eine Geschichte immer demjenigen gehöre, der sie am besten zu erzählen weiß - dann markiert dieser Roman die Geburt eines großartigen Erzählers, der noch viele Geschichten sein Eigen nennen wird.

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