Romandebüts In der Parallelwelt gibt's Würstchen für alle

Mohammeds Ur-Ur-Enkelin schwärmt vom letzten afghanischen Königreich, Marcel Maas schickt seine Leser als Text-DJ zu einem "Prosa-Set" durch die Nacht - und bei Dorothee Elmiger schwelt unter der Erde ein Feuer. Die interessantesten deutschsprachigen Debütromane.
Wer Phantasie hat, braucht letztlich keine Currywurst - meint Dorothee Elmiger

Wer Phantasie hat, braucht letztlich keine Currywurst - meint Dorothee Elmiger

Foto: Klaus-Dietmar Gabbert / dpa

Jeder Beat ein Befehl: Marcel Maas' Prosa-Set "Play.Repeat."

Marcel Maas kann zaghafte Leser nicht gebrauchen. Man muss dem Autor vertrauen und sich ihm ausliefern, wie einem Dealer oder DJ - sonst wirkt sein Text nicht. Ein "Prosa-Set" nennt der 23-Jährige sein Debüt "Play.Repeat." Er erzählt von vier Freunden, die gemeinsam durch die Nacht ziehen. Neu ist die Metapher des Erzählers als DJ nicht. Zitate zu cutten wie Samples und Texte zu mixen wie Tracks ist ein altes Spiel, im Club wie im stillen Kämmerlein. Doch Maas gelingt ein besonderer Sound. Wenn sein Ich-Erzähler sich auf den Abend mit Freunden vorbereitet, Carlos, Lilly und Marlene einsammelt und sich mit ihnen ins semantische Chaos zwischen Traum, Rausch, Rave und Restrealität stürzt, dann gleicht Maas keine Tempi an oder blendet Erzählstimmen ineinander.

Sein Schreibstil erinnert an die brutalen Massenchoreographien eines DJ Boys Noize: Alle Eindrücke sind übersteigert, alle Breaks abrupt, die Beats stets Befehle. In eckigen Klammern setzt Maas englischsprachige Regieanweisungen an die Lesenden: "Loop the following" oder "Speed up just speed up." Die sind gar nicht nötig: Schon Sprache und Schriftsatz wirken direkt auf Lesetempo und Verständlichkeit. Rausch, Schwindel und Orientierungsverlust sind die Nebenwirkungen. Und kleine Momente der Anmut, wenn sich wirre, unvollständige Sätze im Kopf neu zusammenfügen, eigene Erinnerungen aktivieren und aus der sprachlichen Unübersichtlichkeit poetische Strukturen erwachsen und wieder zerfallen. Dabei gilt die Faustregel: Gute Sätze im Zweifelsfall googlen, anstatt von einer Autorenschaft des Prosa-DJs auszugehen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie aus Songtexten von Death Cab For Cutie oder Tears For Fears entnommen sind.

Auch wenn man Rainald Goetz' "Rave" und Thomas Meinecke kennt und spätestens seit der Airen/Hegemann-Debatte keine Lust mehr hatte auf Sampling-Literatur und Romane über Jugend, Drogen und Techno hatte, lohnt sich "Play.Repeat." Schließlich beginnen auch die besten Ausgeh-Abende bisweilen mit dem Vorsatz, heute aber mal wirklich zu Hause zu bleiben. Oskar Piegsa

Mohammeds Ur-Ur-Enkelin lebt in Berlin : Mariam Kühsel-Hussainis afghanische Familiengeschichte "Gott im Reiskorn"

Es ist gewagt, das Regime des letzten afghanischen Königs Zahir zu einem Reich der Feingeister zu verklären: ein Garten Gottes, noch schöner als Shangri-La. Unter majestätischen Gipfeln residierten Menschen von seltener Anmut, ihre Tage gewidmet der Kalligrafie und Poesie. Derart waren sie mit der Vervollkommnung ihrer Vollkommenheit beschäftigt, dass die Zerstörung ihres Reiches sie kalt erwischte. Sie mussten fliehen und nahmen nichts mit als die Sprache, die im Exil niemand verstand. Der letzte ihrer Poeten verstummte verbittert in der Fremde, ohnmächtig darauf hoffend, dass die Tochter sein Vermächtnis bewahrt.

In ihrem Debütroman folgt Mariam Kühsel-Hussaini, selbst 1987 geboren, also weit nach dem Ende der afghanischen Monarchie, den poetischen Ideen ihrer Vorväter - die Wurzeln der Familie reichen angeblich bis zum Propheten Mohammed zurück.

Sie erzählt die Familiengeschichte der Hussainis in neun Bildern und beschwört dabei jene Hochkultur, als die ihre Eltern das Afghanistan des königlichen Hofes bis zum Ende der Monarchie 1973 empfanden. Die Erzählerin, von Martin Walser als "Glücksfall" gepriesen, weiß sich dem Geistesadel eines "höheren Wollens" verpflichtet, das Wahrheit im ästhetischen Ideal erkennt und kaum in gesellschaftlichen Realitäten. Armut und Analphabetismus blendet sie genauso konsequent aus wie das profane Leben. Und feiert stattdessen überschwänglich das Außergewöhnliche ihrer Herkunft und Kultur.

Die höchstens von Laubrascheln gestörte Stille im großbürgerlichen Haus der Hussainis, die Virtuosität des Großvaters, eines königlichen Kalligraphen (der dem Buch zu seinem Titel verhilft, weil er Koransuren auf Reiskörnern verewigen kann), die "störrischen Empfindlichkeiten" zarter Seelen, die Erkenntnis der Fremdheit der Kulturen beim Besuch eines Kunsthistorikers aus Deutschland, die subtilen sprachlichen Triumphe, die delikaten Farben der Kleider, die Melancholie verschatteter Blicke: Alles wird Ereignis in einer Sprache, die einen sehr hohen Ton anschlägt, die fasziniert, wenn sie feierlich schwelgt, verspielt abschweift, übermütig schnörkelt, verlockend umspielt. Und die nervt, wenn das Streben nach dem höheren Ausdruck sich mal wieder in einem Hagel von Superlativen erschöpft und der Stil nichtssagende Blüten treibt.

Nein, vollkommen im väterlichen Maßstab ist die Sprache der jungen Berliner Autorin nicht, aber lebendig und mutig - ein persisches Deutsch, das sich schmückt in orientalischen Stil und kleidet in abendländischer Romanform: Schaut her, so bin ich, fremd und doch zugänglich, "Tochter beider Epen". Hans-Jost Weyandt

In der Parallelwelt gibt's Würstchen für alle: Dorothee Elmigers "Einladung an die Waghalsigen"

Recht hat der Mann! Literatur habe, abseits der "immer wieder mit hehren Worten gerühmten Schlichtheit alltagsgesättigter Prosa", auch andere Möglichkeiten zu bieten, schreibt Henning Ahrens im Nachwort seines Debütromans "Lauf, Jäger lauf": bildhafte, märchenhafte und kriminelle Elemente, Ungereimtheiten und Widersprüche. Würde man nach diesem Maßstab allerdings ein Bücherbrett mit deutschsprachiger Literatur füllen, stünden neben Ahrens' ausgezeichnetem, 2002 erschienenem Debüt nur ein paar wenige Bände: Hermann Kasacks "Die Stadt hinter dem Strom", Hermann Lenz' "Spiegelhütte", ein bisschen was von Handke und Fritz Rudolf Fries - und, seit neuestem, "Einladung an die Waghalsigen" von Dorothee Elmiger.

Die 1985 in der Schweiz geborene, in Berlin wohnende Schriftstellerin erzählt die Geschichte zweier Schwestern, angesiedelt in einer Art Zwischenzeit kurz vor der Morgendämmerung: Wacht man, schläft man - ist man überhaupt schon wieder klar im Kopf?

Der abgelegene Winkel, in dem die Mädchen leben, ist wüst und leer: Zwar existieren, irgendwo in der Ferne, noch Städte wie Berlin oder New York; Zeitungen werden gedruckt, auch der Fernseher läuft. Doch rund um die Polizeiwache, in deren Obergeschoss die beiden zu Hause sind, sieht man nur gelangweilte Polizisten, verlassene Kohlegruben, stillgelegte Fördertürme - und unter der Erde schwelt seit Jahren ein Feuer.

Schließlich machen die Schwestern sich auf die Suche: Nach ihrer längst verschollen Mutter - und nach einem mythischen Fluss, dem Buenaventura. Der Metaphern-gestählte Leser ahnt: das Weibliche, das Wasser, das sind offenbar Gegenpole zu der beinahe schon postapokalytischen Männer- und Feuerwelt des Romans, aus der die Schwestern ausbrechen wollen.

Dorothee Elmiger erzählt die Geschichte in einer so ruhigen wie klaren Sprache und verleiht so ihrer mitunter schwer greifbaren Geschichte einen ganz eigenen Flow - so dass der Leser nur zu gern vergisst, dass es sich hier um einen Fall poetischen Kleinbetrugs handelt: Vorgetäuscht wird eine Geschichte, die letztlich gar nicht existiert.

Da ist es nur konsequent, dass sich am Ende des Buchs auch die Vorstellungskraft der Schwestern als stärker als jede Realität erweist: "Tatsächlich sind wir nur wir zwei, aber ich kann mit Gewissheit sagen, dass wir mehr sind. Hier sind auch die, an die wir uns erinnern und die, auf die wir zu warten beschließen."

Und so ergeht sie, die "Einladung an die Waghalsigen" - nicht vergessen: "Bringt für alle ein Würstchen mit." Fragt sich nur: Reicht auch ein Würstchen, an das man sich erinnert? Sebastian Hammelehle

Am 27. Oktober finden Sie an dieser Stelle die Krimis des Monats. Romane gibt's wieder am 3.11.

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