Romane des Monats Im Bann der Marlboro-Venus

Schauspielerin Bardot: Alle Attribute einer Nachkriegs-Göttin
Foto: APFruchtbarkeitsgöttin auf hohen Absätzen: Pierre Michons "Die Grande Beune"
Die berühmten altsteinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux sind nicht weit weg. Postkarten einer prähistorischen Fruchtbarkeitsgöttin gehören zum Standardangebot der örtlichen Zeitungshändler - doch in Pierre Michons 1961 spielendem Buch "Die Grande Beune" ist es eine mit allen Attributen des mittleren 20. Jahrhunderts ausgestattete Venus der Nachkriegszeit, an der sich der Erzähler, ein Junglehrer Anfang 20, berauscht.
Die südwestfranzösische Provinz ist herb und dunkel. Es regnet in Strömen, als der Lehrer eintrifft, um seine erste Stelle anzutreten. Der Leser hat das Gefühl, dass dieser Regen nur dann aussetzt, wenn es gilt, noch rauerer Witterung Raum zu geben: Schnee, Eis. Man betritt eine düstere, ochsenblutrot gestrichene Schankstube. Über den schweigsamen Gästen, die meisten Fischer, wacht ein ausgestopfter Fuchs.
Beim Kauf einer Schachtel Zigaretten fällt des Erzählers Blick dann erstmals auf Yvonne, die Tabakverkäuferin des Dorfs. Yvonne ist herausgeputzt, wie man sich eine Schönheit Anfang der Sechziger nicht klassischer vorstellen könnte. Die beiden wechseln kaum einmal ein Wort, das über alltägliche Nichtigkeiten hinausgeht. Doch der Bursche befindet sich fortan in ihrem Bann; sie beherrscht seine Phantasie, er stellt ihr nach.
Schwärmerisch ist diese Begeisterung nicht, sondern rein sexuell. Das Flusstal der Beune, nach der das Buch benannt ist, scheint sich in Michons Text zu verengen, bis nur Platz bleibt für eine Art Kammerspiel, angesiedelt im Kopf des Erzählers. "Die Grande Beune" ist eine hochsymbolisch aufgeladene, exemplarische Geschichte: Der junge Mann ist von den biologischen und den artifiziellen Geschlechtsmerkmalen der Frau so überwältigt wie eingeschüchtert. In der etwas älteren, als überweiblich empfunden Tabakverkäuferin findet er eine sexualisierte Mutterfigur, deren Ausstrahlung für ihn derart mächtig ist, dass er sich ihr nur aus der Ferne zu nähern wagt. In kruden Phantasien; mit verstohlenen Blicken auf das, was unbelebt ist und damit für ihn beherrschbarer als der weibliche Körper: ihre raschelnden Röcke, ihre hohen Absätze, ihre Nylonstrümpfe.
Ähnlich wie Ian McEwans "Am Strand" ist "Die Grande Beune" eine illusionslose Schilderung der Geschlechterbeziehungen Anfang der Sechziger. Doch Michons Analyse ist grundsätzlicher - und damit viel zeitloser. Mag man auch Marlboros rauchen und Renault fahren in diesem Buch: die männliche Hauptfigur wird noch immer getrieben von einer Kraft, deretwegen die Höhlenbewohner der Altseinzeit Fruchtbarkeitsgöttinnen formten. Man könnte auch die Urgewalt des Weiblichen dazu sagen. Pierre Michon erzählt davon mit hochliterarischer Wucht. Sebastian Hammelehle
Soldaten in Mode-Nöten: William Gibsons "System Neustart"
Schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht hat die Bundeswehr ihre Werbeclips mit Gitarrenriffs unterlegt , die stark an Led Zeppelin erinnern, und die Wendegeräusche eines Fuchspanzers als Handyklingelton angeboten. Hip ist beides noch lange nicht - doch früh übt sich, was eine Freiwilligenarmee sein will. Wie Militärs versuchen, Jugendliche zu ködern, erzählt auch der neue Roman des eminenten Science-Fiction-Autors William Gibson. Der Ausgangspunkt von "System Neustart" ist ein modisches Dilemma: Jahrzehntelang hat der Army-Look die Alltagsmode beeinflusst. Wenn die Freiwilligenarmee einer Lifestyle-Gesellschaft attraktiv bleiben will, muss sie deshalb mit ihren eigenen Design-Ideen konkurrieren und neue, zukunftsweisende Uniformen gestalten. Und weil es den Generälen an Wissen um Trends und Modesemiotik mangelt, wittert der zwielichtige Marketing-Guru Hubertus Bigend die Chance auf einen üppigen Staatsauftrag.
Bigend, der bereits aus den letzten beiden Gibson-Romanen bekannt ist, macht sich auf die Suche nach einer geheimnisvollen Designerin, deren Jacken und Jeans die perfekte Passform haben. Auf der Jagd nach der Schneiderin des Goldenen Vlies begleitet ihn ein Team aus einer abgehalfterten Rocksängerin, einem Ex-Junkie und einem beinamputierten Basejumper - angeknacksten Typen also, die einst im Zentrum der Hipness standen. Gemeinsam bewegen sie sich durch einen globalen Dschungel aus Geheimwissen, Szene-Codes und Markenprodukten, werden von Militärs und Geheimdienstlern verfolgt und wissen bald nicht mehr, wem sie noch trauen können.
Erträglich werden die vielen Referenzen auf reale Marken und Produkte durch den Blick des Protagonisten Milgrim, der nach einer aufwändigen Entziehungskur die letzten zehn Jahre Konsumgeschichte verpasst hat - und jetzt zu seinem Erstaunen von Menschen umgeben ist, die ihren Kaffee aus Pappbechern trinken und immer einen Finger am Touchscreen haben. Über Sinn und Unsinn von Kriegen denken diese Menschen nicht mehr nach, sondern darüber, wie man das Militär so effektiv vermarkten kann, dass solche Fragen überflüssig werden. Männer schreiben sich nicht bei der Armee ein, um hehre Werte zu verteidigen, sondern weil sie scharf auf Uniformen und exklusives Equipment sind. Und Frauen sind zwar voll emanzipiert, aber um den Preis, dass Milgrim immer wieder Müttern begegnet, die mit ihren Kindern nur per iPhone oder Twitter reden (die Väter sind noch abwesender).
Das Ergebnis ist eine bittere Satire auf den Kulturkapitalismus und sicher nicht Gibsons bestes Buch, denn so wie das "hippe Wissen" hier eine komplizierte Angelegenheit ist, wird auch der Plot immer zerfaserter. Aber mit komplexen Welten umzugehen, das dürfte man als Gibson-Leser gewohnt sein. Oskar Piegsa
Wie Unschuld in Brutalität umschlägt: Elias Khourys "Yalo"
Modern, kühn und ernst ist dieses Buch. Elias Khoury geht es ums Ganze: Um die Zerstörung einer Gesellschaft im Bürgerkrieg und ihre Fortexistenz in Schuld, Schweigen und einer verrohten Zivilität, um das Verschwinden einer Kultur mitsamt ihrer Sprache, um Völkermord, Verdrängung und falsche Mythen, um Amnesie und Sprachlosigkeit, um Sex und Gewalt, um Liebe und Folter. Und wie das alles zusammenhängt, sich bedingt, befruchtet, vergiftet, wie Unschuld in Brutalität umschlägt und wie es sein kann, dass Demütigungen und Qualen befreiend wirken können. Und schließlich geht es um das Mysterium des Weiterlebens, wenn nichts mehr dafür spricht. Es geht um Yalo.
Yalo ist einer dieser hoffnungslosen Fälle, die wohl in jeder Gesellschaft irgendwann crashen. Er ist 14, als der Bürgerkrieg ausbricht. Bald entdeckt er, dass er die permanente Angst besser erträgt, wenn er selbst Auslöser des Grauens ist, und schließt sich einem christlichen Regiment an, das sich ziellos marodierend durch die 16 Jahre wahnwitzigen Mordens kokst und ballert. Nach Kriegsende ist er leer, ohne Erinnerung und Hoffnung, ein funktionsloses Nichts, das abtaucht. Er findet Unterschlupf bei einem Waffenhändler und verbreitet im Schutz der Nacht weiter heillosen Schrecken: Mit dem Strahl einer Taschenlampe schießt er Paare gleichsam ab, die sich in Autos lieben. Manchmal beraubt er seine Opfer, manchmal vergewaltigt er die Frauen.
Ein Mann flüchtet, er lässt seine Begleiterin zurück, der Weihrauch, mit dem die junge Frau parfümiert ist, betört ihn, er verliebt sich. Er glaubt an eine gemeinsame Zukunft, stellt der Frau nach, der Spanner wird zum Stalker, sie lässt sich widerstrebend auf weitere Treffen ein, und Yalo kann es nicht fassen, als er von dieser Frau angezeigt wird. Was folgt, ist das Grauen in den Folterkammern des libanesischen Staats.
Ein Junge wird im Krieg zum kreuzgefährlichen Niemand, der schließlich unter entsetzlichen Qualen zerbricht: Erbauliche Geschichten gehen anders. Und doch ist dieser Roman, der in einigen arabischen Staaten verboten ist, genau das: der atemberaubende Versuch, aus totaler Zerstörung so etwas wie eine Rekonstruktion des Humanen zu erreichen. Dafür legt Khoury die Ursprünge des Hasses frei. Denn die Katastrophe des Libanon, die sich in Yalo bündelt, hat viele Väter. Und Großväter wie Pater Afram, der als Kleinkind den Völkermord an den Aramäern im Osmanischen Reich überlebt, bei Kurden aufwächst und erst als Erwachsener Aramäisch lernt. So wird "sein Mund zum Friedhof der Sprache Jesu", der nichts verkündet als die Reinheit seines Volkes und Glaubens. Seinen Enkel Yalo nennt der Pater Afram in seiner Hybris "Abro", Gottes Sohn.
Dass der von ihm ernannte aramäische Messias sich als Vergewaltiger offenbart, ist eine der bittersten Ponten dieses Buchs, das seine Titelfigur fürsorglich begleitet wie ein Vater seinen einzigen, missratenen Sohn. Hans-Jost Weyandt