Romane des Monats Lobo, im Dienste des Drogenkönigs

Gräber im mexikanischen Grenzland: Von der staatlichen Ordnung verlassen
Foto: REUTERSDetektivbüro als perfektes Bühnenbild: Karin Kerstens "An Schlaf war nicht zu denken"
"An Schlaf war nicht zu denken", derzeit auf Platz eins der entscheidenden deutschen Kritiker-Bestenliste, der des SWR, ist kein Buch, das vorgibt, mehr zu sein als es tatsächlich ist. Sondern eines, das den Leser in die Irre führt, indem es anfangs so tut, als wäre es viel weniger als es tatsächlich ist; als müsse man es eigentlich kaum ernst nehmen.
Der dritte Roman von Karin Kersten erzählt die Geschichte eines Detektivbüros mit dem bemüht seltsamen Namen Sphinx - angesiedelt im Südwesten Berlins, wird es von zwei Frauen betrieben. Die eine ein bisschen älter, die andere ein bisschen jünger. Dazu kommt ein sonderlicher Gehilfe. Und ein Auftrag, der eigentlich gar keiner ist. Es scheint eine seltsame Schnurre in Gang zu kommen. Die wirkt, als werde eine gemütliche Vorortkomödie aus dem Vorabendprogramm des alten SFB-Fernsehens mit leisem Spott nacherzählt - eine Art Meta-Vorortkomödie: Dora Heldts Bestseller "Tante Inge haut ab", ausgeschmückt mit einer paar Scherzen für Altsprachler, "Zeit"-Kreuzworträtsellöser und andere Freunde des anspielungsreichen Gehirnjoggings - ein Wort, das in diesem Roman allerdings niemand benutzen würde.
"An Schlaf ist nicht zu denken" ist, nach Silvia Bovenschens "Wie geht es Georg Laub?", schon der zweite Roman in diesem Frühjahr, der den biedersten, abseitigsten Teil der Hauptstadt als Bühne für eine ebenso abseitige Geschichte nutzt. Doch bei Karin Kersten - und darin liegt die Besonderheit ihres Buchs, dient das vordergründig geschäftige Treiben nicht nur der Selbsttäuschung der Handelnden, sondern vor allem der Täuschung des Lesers.
Je weiter sich die Geschichte entwickelt, desto mehr merkt man, dass die einzige ernsthafte Ermittlung in diesem Roman die ist, die von der Erzählerin gegen ihre Romanfiguren angestellt wird. Angefangen bei Äußerlichkeiten, dem fadenscheinig gewordenen Stoff, den speckig glänzenden Jackett-Ellenbogen - langsam mehren sich die Indizien, dass hier etwas nicht stimmt. Bis schließlich herauskommt: Dass in diesem Buch fast alle Figuren in prekären Verhältnissen leben, dass in diesem Buch fast alle verzweifelt sind.
Um ein Detektivbüro kreist die Handlung wohl nur deshalb, weil kein anderes Unternehmen ein derart perfektes Bühnenbild für die beiden Themen des Buchs abgegeben hätte: die große Flucht und ihr Gegenstück - die große Suche.
Es ist Karin Kerstens Leistung, dass sie die Geschichten, die sich daraus ergeben, ganz ohne große Geste erzählt, sondern in einem Ton, in dem lakonische Heiterkeit, eine Ahnung des Scheiterns und der Wille, das Innenleben der Romanfiguren ernst, aber auch nicht zu ernst zu nehmen, mitschwingen - als wäre das ganze Unglück des Lebens nicht viel mehr als ein gemeiner Witz. Ist es ja auch. Sebastian Hammelehle
Hofkünstler beim Drogenboss: Yuri Herreras "Der Abgesang des Königs"
"Staub und Sonne. Überall Schweigen", heißt es am Anfang dieses Romans. Der erzählt von elementaren Gewalten - und von den Sin-Nombres im nordmexikanischen Grenzgebiet, die ihnen ausgesetzt sind. Doch Hitze ist hier mehr als ein klimatischer Zustand: Wie das Verbrechen, die Willkür und der Tod erscheint sie als unabwendbar.
Das öde, von Gott und der staatlichen Ordnung verlassene Kaff des Romans ist namenlos wie die Gestrandeten, die sich in ihm aufhalten - mit Ausnahme des Jungen Lobo. Außer dem Namen hat er noch ein Akkordeon, das ihm seine Eltern als Überlebenspfand zurückließen, bevor sie im Jenseits der Grenze verschwanden. Schnell lernt Lobo, das Instrument zu beherrschen, noch schneller aber, die richtigen Worte für Lieder zu finden.
Die sogenannten Corridos, die der Verwaiste den Schmugglern, Säufern und Prostituierten in den Bars gegen ein paar Münzen Handlohn vorträgt, besingen Liebe, Ehre und Mut in einer fatalistisch schillernden Art, bei der deren Pervertierung durch Lüge und Verrat aufscheint. Variationen auf das ewig traurige Lied der Straße aus dem Mund eines unschuldigen Mediums - wie bei Fellinis "La Strada" verdankt sich auch die melancholische Schönheit von Herreras Roman einer bis zur Abstraktion des Märchens reichenden Lakonie, die das Elend der Unbehausten zur universalen Metapher werden lässt, ohne die konkrete Situation zu verleugnen, die sie aushalten müssen.
Statt jedoch den Grenzland-Irrsinn aus Mord, Drogenhandel und Korruption zum apokalyptischen Fresko im Stil Cormac McCarthys auszumalen, lässt Herrera seinen Lobo die beste aller ihm vorstellbaren Welten entdecken.
Ein Drogenboss ernennt Lobo zum "Künstler" an seinem Hof, und der Junge erlebt erstmals den Schutz einer Ordnung, in der jeder der dahergelaufenen Günstlinge mit einer Funktion einen Titel und scheinbare Wertschätzung erhält. Zum Dank veredelt Lobo die Verbrechen des Drogenclans zu herzzerreißenden Narcocorridos auf seinen "König". Den bewundert er so lange, bis er das Leben am Hof als Farce durchschaut, die ein paar Desperados auf der Freilichtbühne eines Gehöfts aufführen.
Auch das Objekt von Lobos Minnesang entpuppt sich als Prostituierte; dass sie beim ersten Sex nicht anders kann, als den Jungen wie einen Freier zu bearbeiten, gehört zu den schmerzlichsten Momenten des Buchs - zu den bitterwahren hingegen, dass Lobos Initiation zum Mann sich im Akt des Verrats vollzieht. Nur Lobo und das Mädchen überleben die kurze höfische Blüte. Am Ende bleibt ihnen die Straße.
Susanne Lange hat dieses kleine Meisterwerk in ein wunderbar klares, melodiöses Deutsch übertragen: "Sie packten ihre Sachen und gingen hinaus in die Stadt", heißt es gegen Ende. "Über Nacht war die Jahreszeit umgeschlagen, und ein dichter, goldener Blütenstaub schwebte in der Luft, aber sie ging hastig, als flöhe sie vor früherem Staub, als miede sie alles, was sie festhalten konnte." Vielleicht auch deshalb sind die Konjunktive so schön, weil in ihnen kurz aufblitzt, die Figuren könnten wenigstens eine Möglichkeit außerhalb des betäubenden Indikativs ihrer Existenz erahnen. Mehr wagt Herrera nicht, ihnen mit auf den Weg zu geben. Hans-Jost Weyandt
Hier knallt nicht Vaters Töff: Alice Schmids "Dreizehn ist meine Zahl"
Sind auch die ersten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts schon im Dorf präsent, der Vater fährt mit dem gut Schweizerisch "Töff" genannten Motorrad, die Mutter bekommt ein Paar Nylonstrümpfe geschenkt - das Leben in Alice Schmids Debütroman "Dreizehn ist meine Zahl" ist von jener sinisteren Strenge, die man als Leser zu schätzen weiß, egal, ob die Geschichte wie in Daniel Woodrells "Winter's Bone" im Mittleren Westen von heute oder, wie bei Schmid, in der Zentralschweiz der Nachkriegszeit spielt: Es gibt ja kaum Schöneres im Roman, als in einen geschlossenen Kosmos von Hinterwäldlern einzutauchen.
Doch Alice Schmid beschränkt sich nicht darauf, das Leben im Bergdorf in seiner Rustikalität zu schildern: der Hausschlachtung, der Schnapsbrennerei, den Geschichten von der geheimnisvollen Änzlijochjungfrau.
Im Mittelpunkt des Buchs steht die heranwachsende Lilly. Für sie sind die überlieferten Wertvorstellungen das Korsett, das sie in ihrer Entwicklung einengt: Körperlich, seelisch, moralisch - als würde Lilly, wie sie sich auch verhält, gegen eine Bergwand laufen.
Doch Tradition ist bei Alice Schmid kein Zerrbild. Sie schafft es, in ihrem in klarer Sprache erzählten kleinen Roman eine Geschichte vom Heranwachsen, die ja die Vorgeschichte eines Ausbruchs aus dem Dorf sein dürfte, mit der Schilderung des Dorflebens zu verbinden, ohne eine der beiden kontrastierenden Welten abzuwerten. Sie nimmt sämtliche Figuren ernst, ohne sie zur Staffage zu degradieren. Und die Atmosphäre des Dorfs dient hier nicht als Kulisse.
Wie es sich für derartige Provinzgeschichten gehört, wollen auch in Schmids Buch viele Dorfbewohner nicht wahrhaben, dass in ihrer kleinen Welt so manches gar nicht in Ordnung ist. Doch so schauerlich einige Andeutungen auch sein mögen, Schmid kommt fast ohne spektakuläre Effekte aus - nur am Ende des Buchs ist plötzlich ein Knall zu hören. Und das ist nicht der Vergaser von Vaters Töff. Sebastian Hammelehle