Romane des Monats Lolita im Eiskeller
Hans Joachim Schädlichs "Sire, ich eile": Ätzend knapp und kühl luzid
Schlechte Nachricht für Fridericianer aller Fraktionen, für die strammen Posaunisten von Preußens Gloria und die flinken Flötenspieler aus dem Sanssouci des Feuilletons: Hans Joachim Schädlichs Novelle, pünktlich zum 300. Geburtstag Friedrich II. erschienen, hat nichts, das geeignet wäre, diesem langen Friedrich-Jubeljahr mit gesteigertem Interesse zu folgen.
Gemessen am Anlass, zu dem das Buch erscheint, ist das Buch eine Frechheit, eine hübsche Volte im Geiste Voltaires, und man könnte sagen, dass der Autor Schädlich nachholt, was seinem großen Vorgänger im Buch versagt bleibt: rücksichtslos das freie Wort zu führen. Als schreite ein Poet auf seine Majestät, den Leser, zu, das Geburtstagsgeschenk in Händen, eine schlanke Novelle, die verspricht, die facettenreichen Gestalt des alten Fritz in neuem Licht erscheinen zu lassen. Und die stattdessen ätzend knapp und kühl luzid einen Vorgang nach historischer Faktenlage referiert, der den Jubilar zum kalten Schatten eines absolut willkürlichen Herrschers reduziert: ein erledigter, gesichtsloser Fall, zu sehr Verkörperung der Macht und ihres Missbrauchs, um empathisch gezeichnet zu werden.
Der Vorgang, den Hans Joachim Schädlich gleichsam mit Roentgenblick auf seine Strukturen skelettiert, heißt "Voltaire bei Friedrich II." und war in autoritäts- und aufklärungsgläubigeren Zeiten eines der beliebtesten Stücke aus der sagenhaften Wunderkammer der historischen Zunft, in der sie all ihre weltgeistigen Preziosen verwahrte, insbesondere die seltenen Tête-à-têtes von Geist und Macht: Gegenstände hochherziger Phantasien und ideeller Spekulationen, die vom Verlauf des letzten Jahrhunderts zwar längst zerstäubt wurden, von Schädlich aber radikal in einem gleichsam nachholenden Akt beseitigt werden, als verschleierten sie noch heute den Blick.
Man muss schon weit zurückdenken, um auf Bücher mit vergleichbaren Sujets zu stoßen, die Schädlichs Furor würdig sind; und es ist ungeheuer erhellend, Reinhold Schneiders wunderbares "Las Casas vor Karl V." von 1938 parallel zu Schädlichs "Voltaire bei Friedrich II." zu lesen und die fiebrig verzweifelte Inbrunst des tiefgläubigen Katholiken Schneider, mit der er noch einmal das Ideal des guten, einsichtigen Herrschers wider alles Wissen um den Nazi-Terror behauptet, mit der geradezu calvinistischen Konsequenz abzugleichen, die Schädlich walten lässt, um die fatalen Strukturen hinter der Illusion von der Herrschaft freier Geister bloßzulegen.
"Sire, ich eile", der Titel ist ein Zitat, ein echter Voltaire, und es ist zugleich der Ausruf eines Günstlings, der seine Servilität mit Vorfreude auf die Ankunft in Potsdam kaschiert. Knapp drei Jahre lang schmückt der französische Star den preußischen Hof mit seiner Anwesenheit, als schönste Trophäe in Friedrichs Koryphäensammlung, die ihm freilich vom Autor nachträglich geklaut wird. Schädlich erzählt nur Verbürgtes, das er zusätzlich aufs ihm Wesentliche eindampft. Das Wesentliche, das sind Besitzstandswahrung und -mehrung, denn die dritte Hauptfigur dieses erbarmungslos hellsichtigen Buchs ist das Geld. Friedrich erwirbt es in kaum bemäntelter Raubrittertradition, Voltaire zockt: Die gewagtesten Spekulationen des Aufklärers in Potsdam gelten sächsischen Schuldscheinen. Sein intellektueller Glanz verblasst, bevor er in Ungnade fällt und willkürlich gedemütigt wird. Die Gaukelei vom Gipfel der Giganten hat sich da bereits längst aufgelöst. Keine einzige Szene ist den Titelhelden vergönnt, in der sie sich begegnen oder ein paar Worte tauschen könnten. Vom Disputieren ganz zu schweigen. Im Zentrum dieses Buchs klafft ein Loch, ein Krater der Illusionen. Hans-Jost Weyandt

Hans Joachim Schädlich:
Sire, ich eile
Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle.
Rowohlt Verlag; 144 Seiten; 16,95 Euro.

Louis Paul Boons "Menuett": Mann, Frau, Dienstmädchen
Das schöne und zugleich äußerst ernüchternde Genre des Beziehungs-Kammerspiels erhält mit dieser späten Wiederentdeckung eine Ergänzung, die es an Dichte mit den großen Kammerspielen der Weltliteratur aufnehmen kann - wobei Kammer als Ortsbegriff in diesem Fall nicht ganz zutrifft: Ein Eiskeller, ein altmodisches Kühlhaus, bildet den Rahmen dieser in den fünfziger Jahren in Flandern angesiedelten, in drei Teilen erzählten Geschichte.
Mann, Frau, Dienstmädchen sind, nicht minder klassisch, die Protagonisten. Dass das Verhältnis zwischen den Eheleuten wenn nicht eisig, so doch zumindest gut abgekühlt ist, versteht sich fast von selbst angesichts der herrschenden Temperaturen - aber auch Kühlraum-Lageristen sind zu Leidenschaften fähig: Der Mann hat ein sehr spezielles Hobby. Er sammelt grausame Zeitungsmeldungen im Stil von "Auf einem verschneiten Feld entdeckte ein Bauer ein nackt an einen Baum gefesseltes Mädchen". Louis Paul Boon hat sie, einem scheinbar endlosen Nachrichtenticker gleich, über den Text montiert, so dass der Leser auf jeder Seite neben der eigentlichen Geschichte auch stets fünf Zeilen aus der Welt der Polizei- und Psychiatriemeldungen mitzulesen hat.
Ein Kunstgriff, der schon beim ersten Erscheinen des bislang kaum bekannten, jetzt neu ins Deutsche übersetzten Buchs im Jahr 1955 ungewöhnlich war, der sich aber, anders als viele andere, vermeintlich neuartige literarische Gags, in den Jahrzehnten danach nicht abgenutzt hat. Zur ganz besonderen Atmosphäre von "Menuett" trägt er ebenso bei wie der trockene Ton Boons, der die tristen Innenwelten seiner drei Figuren ohne Larmoyanz abbildet.
Frustriert umkreisen sich die Ehepartner, der Mann zunehmend abgestoßen von der Frau, sie von seiner Verschlossenheit irritiert. Das minderjährige Dienstmädchen isoliert in einem Kaff, wo es kaum etwas zu erleben gibt und der interessanteste Mann dann doch der eigene Dienstherr ist - trotz all seiner Schrullen. Der starrt ihr, wenn sie sich bückt oder hinkniet aufs Höschen. Schließlich berühren sie sich. Beide wissen, was sie tun, doch mit Befreiung oder gar einem Auftauen der Gefühle hat das wenig gemein. Auch die Lolita kommt in "Menuett" nicht aus dem Eiskeller heraus. Sebastian Hammelehle

Louis Paul Boon:
Menuett.
Übersetzt von Alfred Antkowiak.
Alexander Verlag Berlin; 152 Seiten; 14,90 Euro.

Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio": Welthauptstadt der Spinner und Spanner
Winesburg verfügt über ein paar Geschäfte, einen Imbiss, einen Bahnhof, ein Hotel und sogar über eine eigene Zeitung. Ein 1800-Einwohner-Kaff, in dem allerdings ausschließlich "verwirrte Leute" leben, wie Daniel Kehlmann in seinem Nachwort zu einer nun bei Manesse erscheinenden Neuübersetzung des Klassikers von Sherwood Anderson erkannt hat: Sind sie nicht verwirrt, so sind sie seelisch versehrt, sozial verstummt, von religiösem Wahn und sexuellen Begierden verzehrt. Verlorene sind sie alle, und der Ort ist ihr Asyl im Abseits. Und doch übertreibt Mirko Bonné kaum, wenn er in einem Essay zur zweiten, nun ebenfalls erscheinenden Neuübersetzung des Romans behauptet, dass "alle oder fast alle Wege nach Winesburg führen", in diese Welthauptstadt der Spinner und Spanner, der trostlosen Träumer und haltlosen Säufer, der einsamen Frauen in ihren totenstillen Häusern.
"Winesburg, Ohio", 1919 von Sherwood Anderson veröffentlicht, ist ein zentraler Schnittpunkt auf der Karte der amerikanischen Literatur. George Willard, der junge Reporter des "Winesburg Eagle", die Haupt- und Gegenfigur zu all den traurig Hoffnungslosen, ist in seiner jugendlichen Unschuld und indifferenten Offenheit ein Prototyp des blonden All american boy. Philip Roth beschwor eine Atmosphäre wie in Winesburg in seinem Roman "Empörung" wieder herauf, wie auch Philip Ridley mit seinem Film "Schrei in der Stille" (1990), während sich Robert Altman und Paul Thomas Anderson wenig später vom Story-Reigen "Winesburgs" zur Episodenstruktur ihrer Metropolenfilme "Short Cuts" und "Magnolia" anregen ließen.
Denn so überschaubar der Ort Winesburg auch scheint, bleiben doch Gesetze, Strukturen und Antriebskräfte des Städtchens dem Erzähler ebenso verborgen wie die Ziele der Bewohner. Sein Blick ist der eines Fremden, dem vor allem das Periphere, Groteske, das Erstaunliche auffällt, die "weißen langen Bärte", die erstaunliche Anzahl "großer Frauen". Sherwood Anderson hat für das Porträt seiner Kleinstadt erzählerische Mittel erfunden, um das Mysterium des scheinbar verbindungslosen Nebeneinanders in den Großstädten des 20. Jahrhunderts zu beschreiben.

Sherwood Anderson:
Winesburg, Ohio.
Übersetzt von Eike Schönfeld.
Manesse Verlag; 304 Seiten; 21,95 Euro.

Im deutschen Sprachraum allerdings blieb der direkte Zugang zu diesem so einfach wirkenden und zugleich so rätselhaft verknüpften Werk lange versperrt und wucherte nach der Erstübersetzung des Büchnerpreisträgers Hans Erich Nossack (Bibliothek Suhrkamp) im Lauf der Jahrzehnte zu. Nun haben also gleich zwei Übertragungen neue Wege nach Winesburg gefunden. Beide Arbeiten sind in sich stimmig und nah am Original, wobei Eike Schönfelds Sprache eher die Nähe zum Text sucht, dessen Eigenarten und Macken er so akribisch freilegt wie ein Archäologe ein Fundstück: Sein "Winesburg", für das Kehlmann das Nachwort schrieb, betont die historisch-kulturelle Differenz und klingt teils aufregend fremd, archaisch. Mirko Bonné hingegen, einer der vielseitigsten unter den jüngeren Autoren, scheint auch die Intentionen Andersons aufspüren zu wollen, die er ins heutige Deutsch transportieren möchte. Sein Text vermittelt ein Gespür für die Welt hinter dem Text, die von historischen Aufnahmen des Winesburg-Vorbilds ergänzt wird. Hans-Jost Weyandt

Sherwood Anderson:
Winesburg, Ohio.
Übersetzt von Mirko Bonné.
Schoeffling + Co.; 328 Seiten; 22,95 Euro.
