Romane des Monats Nichts macht so alt wie die ewige Jugend

Romanthema sexuelle Revolution (hier "Barbarella"): Mehr Erotik als ein Pornoarchiv
Allzeithoch des Testosteronspiegels: Martin Amis' "Die schwangere Witwe"
Der Titel des angry young man gehört zu den Bezeichnungen, die schnell verliehen sind, sich für den Träger aber fast ebenso rasch als Last erweisen. Martin Amis, Sohn des zu Lebzeiten hochberühmten englischen Schriftstellers Kingsley Amis, erschrieb sich nach seinem 1973 erschienen Debüt "The Rachel Papers" in den Achtzigern und frühen Neunzigern mit Romanen wie "Gier", "1999" und "Information", der ausgesprochen lustigen Abrechnung mit seinem Erzfeind Julian Barnes, den Ruf einer der literarisch potentesten, kratzbürstigsten britischen Nachwuchsautoren zu sein - auch wenn Amis, 1949 geboren, da längst nicht mehr blutjung war.
Wie es hätte zugehen können, als der wirklich junge Martin, aus guten Verhältnissen kommend, sich im Zuge der sexuellen Revolution 1970 unversehens im unruhigen Hinterland der Geschlechtergefechte wiederfand, schildert Amis nun in seinem - im englischen Original wörtlich ebenso halbseiden betitelten - Roman "Die schwangere Witwe". Den jungen Briten Keith, eine Art alter ego des Schriftstellers, aber dank seines Vornamens natürlich auch eine Anspielung auf den Rockstar im Allzeithoch seines Testosteronspiegels, hat es gemeinsam mit zwei 20-jährigen Blondinen - die eine namens Lily, die andere namens Scheherazade - auf ein Schloss im italienischen Kampanien verschlagen.
Dort passiert alles und gar nichts - oder, wie es in "Die schwangere Witwe" empört über Samuel Richardsons klassischen Roman "Clarissa" heißt: "Ein einziger Fick in zweitausend Seiten". Das bloße Sexualakt-zu-Buchseiten-Verhältnis bei Amis mag nicht exakt das gleiche sein, ganz sicher aber beherrscht es der Autor, eine Geschichte voranzutreiben, ohne dass es dafür allzu viel Handlung bedürfte.
"Die schwangere Witwe" ist ein hochmusikalisches Buch. Einerseits ist Amis einer der wenigen Autoren, die, wie im deutschen Raum vielleicht nur Martin Walser, über einen freischwingenden Sprachsound gebieten, bei Amis eine Art bravourös aus der Hüfte geschossen wirkender Jazz, hinter dessen Beiläufigkeit sich größtes Virtuosentum verbirgt. Zum anderen erinnert die Abfolge der Szenen in diesem Buch an einen jener höfischen, zu Cembaloklängen vollführten Schreittänze, bei denen schon eine einzelne Drehung auf dem Parkett mehr Erotik und Anspielungsreichtum enthält als ein ganzes Pornoarchiv - wenn nicht die vielen Skrupel und Neurosen wären, die auch die schönsten Paare zur Unzeit bremsen.
Und dann ist dieser Inbegriff eines süßen Nichts der Gattung Sommerroman auch noch ein philosophisches Buch, in dem Amis in mehreren Zwischenkapiteln und einem Schlussakkord das Leben von einer ganz anderen, nicht sommerlichen Seite betrachtet: von seinem Ende her. Nach dem missratenen, autobiographischen "Die Hauptsachen" und dem viel geschmähten essayistischen Stalin-Buch "Koba der Schreckliche" zeigt sich Amis in diesem Roman wieder in der Autorenrolle, die er am besten beherrscht: der des rotzigen jungen Mannes. Es wäre eine leere Pose, würde dahinter nicht schon die Weisheit des Alters durchscheinen. Sebastian Hammelehle

Martin Amis:
Die schwangere Witwe
Übersetzt von Werner Schmitz.
Hanser Verlag; 416 Seiten, 24,90 Euro.

Den Film nicht noch mal! - Ben Brooks' "Nachts werden wir erwachsen"
1666 wurde die Sir Thomas Rich's School im englischen Gloucester gegründet, ihr Motto ist das altfranzösische "Garde ta foy" - Glaube daran! In ihrem Prospekt für zukünftige Oberschüler wirbt die Englisch-Abteilung der ehrwürdigen Institution mit einem früheren Schüler: dem Schriftsteller Ben Brooks, dessen Debüt bereits positiv besprochen worden sei. Allerdings hat Brooks die Schule erst im Sommer verlassen. "Nachts werden wir erwachsen", seinen Roman über einen 17-jährigen Schüler, der gerade einen Roman schreibt, hat er als 17-jähriger Schüler geschrieben - und die Schule kommt darin gar nicht gut weg.
Als eine Schülerin sich umbringt, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat, dass die ganze Schule ein Handyvideo kennt, in dem sie sich mit einem Baseballschläger befriedigt, hält der Direktor eine freundliche Rede. Jasper, dem jungen Ich-Erzähler, kommt sie hohl und ausgedacht vor. Diese abschätzige Verwunderung über die Rituale der Erwachsenen ist natürlich typisch fürs Teenagerdenken, das sich in diesem Roman ungefiltert ausbreitet.
Jasper denkt - wenn er nicht gerade phantasiert, dass sein Stiefvater seine Ex-Frau umgebracht habe - vor allem an Sex. Und an Partys und Drogen, weil sie den Zugang zu Sex erleichtern. Als im Fernsehen der erste "Harry-Potter"-Film läuft, denkt er, dass er den Film häufiger gesehen habe, als dass er Sex hatte und beschließt: "Diese Statistik muss ich unbedingt umdrehen. Ich werde damit anfangen, dass ich den Film nicht noch einmal anschaue." Jedem, der mal 17 war, werden solche Gedanken bekannt vorkommen, auch wenn es damals vielleicht noch keine Internet-Pornochats gab, die Jasper gern besucht. Als Coming-of-age-Geschichte ist "Nachts werden wir erwachsen" realistisch und so traurig wie lustig, wie das Teenagerleben nun mal ist.
Doch Ben Brooks strebt nach Höherem, er zitiert Haruki Murakami und Douglas Coupland und lässt seinen Jasper gegen Ende sagen: "Ich bin Holden Caulfield, nur weniger draufgängerisch und attraktiver." Eine so emblematische Teenager-Figur wie Salingers Held ist Ben Brooks mit seinem Jasper nicht gelungen - das kann vielleicht auch gar nicht mehr gelingen, weil, anders als zu Zeiten des "Fänger im Roggen", heute das Leben und Denken von Teenagern in Dokusoaps und Spielfilmen allgemein massenmedial ausgebreitet ist.
So bleiben letztendlich vor allem die Szenen in Erinnerung, in denen Jasper seine eigene emotionale Unvollkommenheit erkennt, etwa als er entdeckt, dass seine beste Freundin sich selbst verletzt und er helfen will: "'Ich setze mal Wasser auf', sage ich. So was sagt man, wenn man jemandem zeigen will, dass alles okay ist, aber nicht weiß, wie man es sagen soll." Felix Bayer

Ben Brooks:
Nachts werden wir erwachsen
Übersetzt von Jörg Albrecht.
Berlin Verlag; 272 Seiten, 18,90 Euro.

Auf der Arche Ondaatje: Michael Ondaatjes "Katzentisch"
Um das Profil des Schriftstellers Michael Ondaatje besser erkennen zu können, muss man ihn doppelt sehen: Einmal als den Lyriker und Romancier und dann als Autor der Buchvorlage zum Film, der im Abspann von "Der englische Patient" auftaucht. Der eine Ondaatje genießt großes Renommee unter Kollegen, und seine Leser lieben ihn für den vitalen Zauber seiner poetischen Miniaturen, die er der Erinnerung entreißt wie ein Taucher ein antikes Artefakt dem Meer. Wenn es für die Altherrenclique von der Schwedischen Akademie wegen einer obskuren Nobelpreis-Entscheidung demnächst mal wieder brenzlig eng werden sollte, hätte sie in dem Kanadier einen Kandidaten in petto, der ihr allgemeine Akzeptanz garantierte.
Denn den anderen Ondaatje meint alle Welt zu kennen und identifiziert dabei sein Werk fix mit den opulenten Kinobildern des Regisseurs Anthony Minghella, deren monumentale Melodramatik sich allerdings in der hoch verdichteten, von kühnen Aussparungen geprägten Prosa des Autors kaum finden lässt. Das Aufbegehren gegen Vergessen und Vergänglichkeit bestimmt die Kunst des Autors, der in seinen Romanen fast immer gegen den erzählerischen Zwang des "und dann" rebelliert und mit den Zeitebenen virtuos jongliert. Artisten sind ihm emblematische Figuren.
Im Blick auf einen dritten Michael, den jungen Protagonisten dieses autobiografisch grundierten Romans, scheint dieser doppelte Ondaatje nun eins zu werden. Gleich seinem Autor verlässt Michael als Elfjähriger 1954 das damalige Ceylon, die Welt seiner Kindheit, und bekommt für die Überfahrt nach England die tolle Abenteuerkulisse eines stolzen Passagierdampfers spendiert, so prachtvoll in ihrer kolonialen Patina, als wäre sie vom Set des "Englischen Patienten" geklaut. Ansonsten bedient sich Ondaatje aus den reichen Beständen seines Figurenarchivs, um den Jungen, der dem Erzähler zu Anfang fremd ist in seiner "völlig ahnungslosen" Unschuld, Gesellschaft zu leisten auf seiner erstaunlich linear erzählten Initiationsreise in die westliche Erwachsenenwelt.
An Deck tummelt sich ein bunt schillerndes Völkchen von "Bastarden", wie Ondaatje, der selbst aus einer großbürgerlichen niederländisch-tamilisch-singhalesischen Familie stammt, die Abkömmlinge der Kolonialzeit in stolzem Trotz nennt. Außenseiter, Überlebenskünstler mit klangvollen Namen, mysteriöser Biografie und fragilen Überlebenstechniken: Miss Lasqueti, die Tauben in den Innentaschen ihres Mantels hütet; der Pianist Max Mazappa, "halb Sizilianer, halb sonstwas", der sich an Bord von Ozeanriesen wehmütig durchs Leben klimpert. Der Dieb Niemeyer, "teilweise asiatischer Herkunft, was sonst noch, wusste er selber nicht", der wie Ondaatjes großartige Figur Caravaggio (aus dem Romangeschwisterpaar "In der Haut eines Löwen" und "Der englische Patient") den Namen eines Künstlers trägt - zum Spott auf ein Establishment, dessen Besitz Niemeyer sich so lange virtuos aneignet, bis ihn die Drogen seiner Kunst berauben.
Allesamt sind sie Getriebene im Strom der globalen Migration, die dem Jungen Michael das flüchtige Leben am Katzentisch fern der Macht lehren, von dem der Autor Michael Ondaatje sein Leben lang erzählt und das er nun auf der Arche Ondaatje noch einmal zeigt - im schützenden Rahmen eines Buchs, in dem sich jugendlicher Aufbruch und Rückblick auf die verlorene Kindheit in der Gewissheit aufheben, dass die Passage der Entwurzelten keine Ankunft kennt. Ein Alterswerk ist das, das seine Resignation mit sanftem Optimismus mildert: "Es gibt immer eine Geschichte, die einen erwartet." Hans-Jost Weyandt

Michael Ondaatje:
Katzentisch
Übersetzt von Melanie Walz.
Hanser Verlag; 304 Seiten, 19,90 Euro.
