Romane des Monats Wer redet schon mit dem eigenen Po?

Stasi und Inzest: Antje Rávic Strubel beschreibt perverse Manipulationslust. Steven Uhly tritt eine aberwitzige Agentengeschichte los. Angelika Klüssendorf lässt einen Klo-Eimer durch die Luft wirbeln - und schildert dann um so einfühlsamer ein Mädchen in der DDR-Unterschicht der Siebziger.
DDR 1974 (hier "Polizeiruf"-Folge "Im Alter von..."): Armseligkeit und Alltagsfluchten

DDR 1974 (hier "Polizeiruf"-Folge "Im Alter von..."): Armseligkeit und Alltagsfluchten

Foto: rbb/ MDR/ DRA

Identitätsphilosophie auf Speed: Steven Uhlys "Adams Fuge"

Der Vorname der Hauptfigur ist das große Omen in diesem Roman: Adam, der Inbegriff einer ganzen Gattung. Seinem Konstrukt zum Trotz allerdings ist "Adams Fuge" eher Identitätsphilosophie auf Speed als gravitätisches Gedankenspiel. Uhlys universaler Adam ist in Mannheim aufgewachsen. Sein Vater, in diesem Fall wohl der Schöpfer in Person, ein gewalttätiger Fanatiker. Nachdem Adam während seines Militärdiensts in der Türkei einen Kurdenführer erschossen hat, wird er in eine äußerst komplexe Geheimdienstintrige verwickelt - zwischen Türken, Kurden, dem BKA, Neonazis und, wie könnte es anders sein, dem Mossad.

Man schickt ihn auf eine aberwitzige Tour, die über das Rhein-Main-Gebiet und Dresden nach Berlin führt. Dort sieht Adam, der längst ein ganz anderer ist, weil er mittlerweile mehrfach die Identität gewechselt hat, eine türkische Tageszeitung: "Deutschland sucht irren Sex-Killer". Seine Schlussfolgerung: "Die Kriminalpolizei war zu dem Ergebnis gekommen, dass ich ein bisexueller Triebtäter war - etwas besonders Seltenes in der Kriminalgeschichte -, weil ich in Dresden Heinrich Uklinskis Eier gequetscht, in Berlin mit Eva Hinrichsen geschlafen und auf dem Mittelstreifen der A5 Öner Güzel vergewaltigt hatte. So ein Unsinn!"

Selbstverständlich war es nur fast so - Adam ist schließlich längst nicht mehr Adam, Eva ebenso wenig Eva, und wer jetzt noch glaubt, dass Heinrich aber Heinrich wäre, der hat das von Uhlys Figuren perfektionierte Prinzip der verdeckten Ermittlung mittels Verwandlung in eine andere Person nicht verstanden. Erst die Persönlichkeitsspaltung macht den Doppelagenten perfekt.

Steven Uhly schreibt irgendwo zwischen dem jegliches Naturgesetz überwindenden Wahnwitz von Jan Graf Potockis Klassiker "Handschrift von Saragossa" und Haruki Murakamis Meta-Thrillern, wenn es bei ihm auch Wehmut und die Fähigkeit zu lieben, anders als bei Murakami, kaum gibt. Das Menschenbild von "Adams Fuge" ist das eines zu Bindung kaum fähigen, triebgesteuerten Killers - zugespitzter geht es kaum. Dass es einem ernsthaften Realitätsabgleich kaum standhält, versteht sich da fast von selbst.

Zu einem Problem für die Geschichte, die Uhly ziemlich unterhaltsam und gut gelaunt abspult, aber wird es, weil die Hochtourigkeit des Erzähltempos "Adams Fuge" derart heißlaufen lässt, dass zuletzt weder Erkenntnis noch Handlung vom Fleck kommen. Eigentlich ist "Adams Fuge" schon nach zwei Dritteln des Buchs an einem Punkt angelangt, nach dem es kaum weiter gehen kann: "Na, dein Arschloch, wer sonst!" entgegnet eine zuerst gar nicht ortbare Stimme Adam auf die Frage nach ihrer Identität. Es entspinnt sich ein Dialog. Adam: "Ich will mit dir reden!". Antwort: "Niemand redet mit seinem Arschloch, das tun nur Verrückte!"

Kann schon sein, doch man könnte diesen Wortwechsel auch für ein Selbstgespräch halten. Das Arschloch, so lässt sich "Adams Fuge" zusammenfassen, ist kein anderer als der Mensch selbst. Sebastian Hammelehle

Buchtipp

Steven Uhly:
Adams Fuge

Secession Verlag; 227 Seiten; 21,95 Euro.


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Perverse Manipulationslust: Antje Rávic Strubels "Sturz der Tage in die Nacht"

Helligkeit, Geräumigkeit, das sind die ersten Eindrücke in diesem kühn komponierten Roman, und diese großzügige Klarheit verdankt er zunächst ganz einfach seinem Schauplatz: Stora Karö, eine kleine Felseninsel in der Ostsee vor Gotland, deren heidekarges Plateau eine großartige Bühne sein könnte für vom Wind verwehte Romanzen, naturgewaltige Tragödien oder bitterböse Endspiele in der Stille nach dem Sturm.

Mit all diesen Möglichkeiten spielt Antje Rávic Strubel in ihrem fünften Roman und lässt für ihre spröde Liebesgeschichte zwischen Inez, einer Frau Anfang 40, und dem Jüngling Erik großes realistisches Erzählkunsttheater im magischen Licht des nordischen Sommers aufscheinen - als einen Zauber, der alles andere als faul ist, sondern vielmehr einen kontaminierten Erzählkern zu bannen versucht. Dieser Nukleus schien Inez für alle Zeiten sicher entsorgt, doch nun droht er ihren Zufluchtsort zu verseuchen. Es ist ihre Jugendgeschichte, die sie mit der Ankunft Eriks und eines weiteren Deutschen auf der Insel eingeholt hat.

Rainer Feldberg heißt dieser Mann, er wirkt mit Hut und Aktentasche wie eine Karikatur längst vergangener Angestelltenbiederkeit und ist in seiner schäbig-schlauen Beflissenheit eine besonders widerwärtige Inkarnation der Stasi. Inez ist ihm ein Vorgang, den er jederzeit aus seiner Aktentasche hervorholen kann, auch 20 Jahre nach der Wende. Er hat sie in der Hand, sie erscheint ihm als sein Geschöpf, über das er verfügt, seit er der 16-Jährigen eine Adoptivmutter für ihr Kind verschaffte. Es ist eine kleine, dreckige Geschichte, die von Erpressung und Ausbeutung erzählt, und Strubel scheut nicht davor zurück, Feldberg und Felix Ton, Inez' Lover in der Spätzeit der DDR, drastisch zu zeichnen. Wenn Ulrich Mühe in "Das Leben der Anderen" den Stasi-Späher als bis zur Melancholie sich selbst entfremdeten Funktionsträger darstellte, so sind Feldberg und Felix Ton ganz bei sich und ihrer perversen Manipulationslust, wenn sie mit ihrem Job andere Menschen erledigen.

Erledigt war auch Inez, bis sie sich entschied, ihr Leben in der DDR samt dem Verlust des Sohnes gleichsam zu amputieren. Sie ist zweifellos ein Opfer, doch weiß sie ihre Verluste gut zu verbergen: eine schöne, abweisende Frau, die als Ornithologin ihren Frieden unter kreischenden Vögeln gefunden hat. Erik verfällt auf den ersten Blick ihrer erotischen Reife - drei Monate später versucht er, mit einem letzten Abschiedsblick von der Reling auf die Insel seine Zeit mit dieser fremd-vertrauten Frau zu rekapitulieren, und diese elegische Suchbewegung umspannt den kompletten Roman: als erzählerisches Gegengift zum Stasi-Kern, der in fast reißerisch prägnant runter erzählten Blöcken all das nachreicht, was Erik nur ahnt, aber nicht sicher weiß. Und dem er sich immer mehr nähert, wenn er nach Inez' Geschichte sucht und ihrem verborgenen Anfang, wenn er ihrer beider Romanze nachfühlt und etwas von der Katastrophe spürt, die sich hinter ihr verbirgt. Und schließlich im Ungewissen eine schwankende Sicherheit findet - statt mit der Gewissheit, die Geliebte sei seine Mutter, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Vielleicht überdreht Strubel, wenn sie ihre Geschichte um den Verlust des Selbst und das Finden der Liebe, über das Erfinden von Legenden und Verlieren von Biographien bis in den Inzest hineingetrieben hat - dass zwischen den zwei Leben der Inez eine riesige Lücke klafft, in deren Nachtdunkel alle Tage eines Sommerglücks stürzen können, wäre auch so klar geworden. Diese Lücke bleibt unüberbrückbar, den Trost einer Revitalisierung abgestoßenen Lebens bietet der Roman nicht - stattdessen aber sehr vitale Gefühle: Empörung, Verzweiflung und Trauer, Wut, auch Hass. Hans-Jost Weyandt

Buchtipp

Antje Rávic Strubel:
Sturz der Tage in die Nacht

Verlag S. Fischer ; 437 Seiten; 19,95 Euro.


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Weltall, Erde, Unterschicht: Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen"

"Scheiße fliegt durch die Luft" - und das in Zeitlupe. Über eine Seite lang leitet diese Sequenz den Roman ein und setzt so den Ton für den gesamten Text. In Angelika Klüssendorfs "Das Mädchen" prallen Drastik und Unaufgeregtheit immer wieder aufeinander. Das Mädchen ist ein junges Ding, der Vater trinkt, die Mutter prügelt mit dem Ledergürtel, der kleine Bruder, ach. Ein verwahrlostes, ungewaschenes, bedrückendes Szenario. Heute würde man Problemfamilie sagen.

Mag auch im Westradio "Am Tag als Conny Kramer starb" rauf und runter laufen - das Mädchen träumt sich aus der DDR-Realität der siebziger Jahre in die Nachkriegszeit, will Meisterdetektivin sein, sich auf dem Schwarzmarkt herumtreiben.

Das Wort Unterschicht hatte noch einen harmloseren Klang in der von Klüssendorf geschilderten Ära, keiner redete von Prekariat, man glaubte noch an die Durchlässigkeit von sozialen Schichten und nicht an Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, selbst dann nicht, wenn junge Dinger wie die Protagonistin im Umerziehungsheim "für jugendliche Straftäter" landeten, einem kleinen Ladendiebstahl sei Dank. Und doch, zumindest vom Trash-Potential her, erinnert "Das Mädchen" ein wenig an Alina Bronskys im heute spielenden Roman "Scherbenpark": die gleiche Mischung aus Trübsal, Armseligkeit und Alltagsfluchten.

Auch wenn das Leben dieser Heranwachsenden von außen betrachtet immer wieder schockiert, denn so drastisch ist, was ihr dort an Gewalt und familiärer Tyrannei widerfährt, so sind auch die krassesten Szenen geschrieben als wären sie von Watte umhüllt: gedämpft, distanziert, fast teilnahmslos. Und gerade diese sprachliche Dämmschicht ist verantwortlich für eine umso größere Betroffenheit: Die schlimmen Erlebnisse werden glattgebügelt, damit sie erträglich werden. Die beglückenden Momente, das Schnorcheln am See in den Sommerferien, die überraschend gute Laune der Mutter, die Alltagsträumereien als kleine Detektivin, sie werden dagegen als umso glänzender in Stellung gebracht. Dass die eine oder andere Szene übers Ziel hinaus schießt, in Verklärungsverdacht gerät, allein die Schlussszene mit den davonfliegenden Vögeln Klischee-Alarm auslöst - sei's drum.

Natürlich ist "Das Mädchen" in erster Linie eine Entwicklungsroman. Am Ende ist sie kein kleines Mädchen mehr, das im Kohlenkeller spielt. Die Veränderung wird einerseits nachgezeichnet an einschneidenden biographischen Initiationsmomenten, da ist die Jugendweihe samt Buchklassiker "Weltall, Erde, Mensch", der erste Mini-BH, die erste Schwärmerei, die erste Lockenwickler-Haarpracht vom Friseur. Aber parallel dazu wird auch die Geschichte heller: Denn ausgerechnet das Heim wird zum Paradies ihrer Teenagerzeit, nicht die eigene Familie.

Doch selbst wenn's traurig ist: Klüssendorf, Jahrgang 1958 und selbst in Leipzig groß geworden, bringt eine ungewöhnlich harte Adoleszenz in der DDR zum Leuchten. Dass sie damit auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist, ist nur konsequent. Anne Haeming

Buchtipp

Angelika Klüssendorf:
Das Mädchen

Kiepenheuer und Witsch; 182 Seiten; 18,99 Euro.


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