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Leben in Archangelsk: 20 unter Null

Foto: Andre Luetzen

Fotoserie über Archangelsk Leben bei 20 unter Null

Bei 20 Grad unter Null spielt sich das Leben vor allem in den eigenen vier Wänden ab. Auch dort fotografierte André Lützen die Bewohner der russischen Stadt Archangelsk: in Wohnungen, die Trutzburgen gegen den Frost sind.
Von Gunda Schwantje

Archangelsk, Russland, 225 km bis zum Polarkreis: Wie ist das Lebensgefühl in einer Stadt mit einem derart harschen Klima? Wie richten sich Einheimische darauf ein in ihren Wohnungen?

Um das zu erkunden, reiste der Fotograf André Lützen in die Industriestadt am Fluss Dwina, die bisher nur wenig bekannt ist. Rund 350.000 Menschen leben dort. Der durch Buchproduktionen bekannte Hamburger landete im März im hohen Norden, bei minus 20 Grad und blieb bis zur Schneeschmelze.

Die Einwohner von Archangelsk leben in Plattenbauten und einfachen Holzhäusern. In seinem jüngst veröffentlichten Fotobuch mit dem Titel "Zhili Byli" ("Es war einmal...") zeigt Lützen nun, wie es hinter den Türen der Wohnungen aussieht, die Fremden für gewöhnlich verschlossen bleiben, und präsentiert Stadtansichten.

Die Fotos sind atmosphärisch dicht und reich an Details. Der Betrachter bekommt einen fast sinnlichen Eindruck von den Lebensräumen, als nähme man selbst auf einem der samtbezogenen Polstermöbel Platz. Menschen in sommerlicher Kleidung, heiß ist es in mancher Trutzburg gegen den Frost, wärmende Teppiche an Wänden, viel Deko, man hat es sich gemütlich gemacht, in einer eigenen Ästhetik.

Lützen ist Spezialist für Lebensräume und Klima. Innen und außen, auch in Vietnam, Sudan, Indien fotografierte er: extreme Hitze, Trockenheit, den Monsun, Menschen zu Hause. "Zhili Byli" enthält außerdem den eindringlichen Essay "Zugreise von Nirgendwo nach Nirgendwo". Der russische Autor Leonid A. Klimov beschreibt darin einen Besuch in seiner abgelegenen Heimat, irgendwo in Russlands Weiten.

SPIEGEL ONLINE: Herr Lützen, Sie waren als Stipendiat der Robert Bosch Stiftung in Archangelsk. Waren die Menschen gleich offen für Ihre Idee, sie in den eigenen vier Wänden zu fotografieren, oder mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten?

Lützen: Den ersten Schritt, um mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen, haben mein Übersetzer und Begleiter Oleg und der Kulturmanager der Stiftung gemacht. Die beiden kennen die Menschen, die ich fotografiert habe. Sobald also jemand Ja sagte, war ich praktisch schon fast drin in der Wohnung.

SPIEGEL ONLINE: Es ist ja keine leichte Aufgabe, Fremde in ihrer Privatsphäre zu fotografieren. Wie sind Sie vorgegangen?

Lützen: Man muss schnell erfassen: Wer ist diese Person, die ich vor mir habe. Wie will dieser Mensch angesprochen werden, wie bekomme ich ihn dazu, mich zu mögen? Schließlich muss man mir vertrauen. Wichtig war auch, wie viel Zeit mir gewährt wurde, also, wie schnell ich sondieren musste, was interessant sein könnte. Wenn ich Zeit hatte, war ein Besuch immer gepaart mit Essen und Trinken.

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Foto: seen.by

SPIEGEL ONLINE: Die Temperaturen im nordrussischen Winter sind eisig, die Nächte sind lang, das Klima ist extrem. Wie gehen die Menschen damit um?

Lützen: Wenn das Klima die Lebensform vorgibt, wenn lange, kalte Winter den Rhythmus bestimmen und man damit aufwächst, kommt einem das Klima gar nicht so extrem vor. Wer dort lebt, findet Wege, den Tagesablauf entsprechend zu gestalten. Man überlegt gut, wie man sich organisiert, wie lange man draußen ist, und kehrt bald in einen gut temperierten Raum zurück. Für unser westliches Empfinden wirkt eine Stadt aus Plattenbauten und Holzhäusern in Schnee und Eis erst mal trostlos. Ist sie aber nicht, weil sich die Bewohner darin anders organisieren, bewegen und miteinander umgehen. Kälte führt zusammen. Die Individualisierung, die sich in unserer Gesellschaft fundiert ausgebaut hat, ist dort nicht so vorhanden. Die Hilfe untereinander ist ausgeprägter.

SPIEGEL ONLINE: Was hat Sie denn am meisten überrascht während Ihres Aufenthalts in Archangelsk?

Lützen: Wie angenehm der Besuch war! Mir gefielen die Menschen, mir gefiel die Kälte. Russen sind bekannt für ihre Gastfreundschaft. Vorher dachte ich, das kann ja eigentlich nur ein Klischee sein. Ist aber tatsächlich so. Ich wurde mit Interesse, ja Neugierde aufgenommen. Viele waren einfach bereit, an meinem Projekt mitzuwirken. Es verirren sich nur ganz selten Ausländer nach Archangelsk. Deshalb war es etwas Besonderes, als ich dort auftauchte und Leute fotografieren wollte.

SPIEGEL ONLINE: Unter den Aufnahmen befindet sich ein Foto von einer jungen Frau in der Badewanne. "We carry the scars of love" ist auf ihren Rücken tätowiert. Wie kam es dazu?

Lützen: Sie hat sich ein Gedicht von Mark Twain tätowieren lassen. Interessant ist, dass sie kein Wort Englisch spricht. Ich habe mit ihr nur mithilfe des Übersetzers kommunizieren können. Sie wollte gerne mit ihrem Tattoo fotografiert werden und schlug vor, sich in die Badewanne zu setzen. Ein intimes Portrait.


André Lützen: "Zhili Byli", Peperoni Books, Berlin. 88 Seiten, 43 Farbabbildungen. Mit einem Essay von Leonid A. Klimov. Deutsch/Englisch. 35 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung wird am 16. Januar 2015 in der Galerie Robert Morat in Hamburg zu sehen sein.

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