
Schriftstellerin über Ukrainekrieg Sofort Tränen in meinen Augen

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Catherina Hess / picture alliance / SZ Photo
Lena Gorelik wurde 1981 in St. Petersburg geboren, als sie elf war, kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin und freie Publizistin in München. Ihr Roman »Hochzeit in Jerusalem« war für den Deutschen Buchpreis nominiert, zuletzt erschien im Sommer ihr Buch »Wer wir sind« bei Rowohlt.
Ich sehe Nachrichten, in deutscher, englischer, russischer und ukrainischer Sprache, sehe sie auf Russisch in der Hoffnung, vielleicht hinter der Propaganda etwas zu entdecken, was ich übersehen habe. Irgendetwas, das – was? – erklären, verstehen machen könnte? Sehe Nachrichten auf Ukrainisch, obwohl ich eher Zusammenhänge als wortwörtliche Sprache verstehe, warum eigentlich, mit welcher Hoffnung?
Mich den Ukrainer:innen näher, verbundener fühlen, wage ich das tatsächlich, während ich hier in meinem Wohnzimmer in München, sitze, und sie in Luftschutzbunkern, und sie in Angst? Was haben sie denn von meiner vermeintlichen Nähe? Vielleicht ist das die größte Verzweiflung von allen: zusehen zu müssen, nichts tun zu können. Sofort der Reflex, diesen Satz zu löschen: Es geht in diesen Tagen nicht um unser Verzweifeln und nicht um unseren Schmerz.
Diese machtlose Untätigkeit, die unsere, und die der anderen, die ebenfalls zusehen – der Regierenden, der EU, der USA, der Nato (wobei das vielleicht nur eine Untätigkeit ist, denn sie müssten nicht machtlos sein). Wie muss es sein, ebenfalls diese Bilder zu sehen, von Berlin, Paris, Washington aus, und zu wissen, dass man beim Zusehen eine Entscheidung trifft: Nicht einzugreifen. Oder: Nur mit Sanktionen dagegenzuhalten.
Und: zu entscheiden, welche Sanktionen man anwendet . Und welche eben auch nicht. Zusehen, machtlos, aber nicht ohnmächtig werden, denke ich, und sehe mich in blinden Aktionismus verfallen: Twittern? Die Entscheidungsträger anschreiben, anbetteln, anrühren, sie mögen mehr tun? Zur Kundgebung gehen? Flüchtende aufnehmen, aber wie schaffen sie es bis hierher?
Ohnmächtig den Menschen in der Ukraine schreiben, mit denen ich auf Russisch kommuniziere, weil wir das schon immer getan haben. Es gibt in keiner Sprache gute Worte dafür um zu sagen: Kommt gut durch den Tag, durch die nächsten Stunden, durch die nächste Stunde; ohnmächtig, wie viele Fragen sind eine Frage zu viel, und wie formuliere ich all diese Fragen: »Alles in Ordnung?«, »Wie geht es Euch?«. Wie soll es Menschen schon gehen in einem Land, das seine Ordnung, die Ordnung des Friedens, verloren hat.
Das, was diesen surrealen Krieg so real macht, ist die Tatsache, dass die Bilder, die Sprache, die Vorstellungen, die ich, die vielleicht die meisten von uns vom Krieg haben, gegenwärtig geworden sind. Dass sie nicht mehr Bilder aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg sind, dass die Sprache nicht mehr aus dem Geschichtsunterricht kommt, dass der Krieg, wie ich ihn in eben diesem Geschichtsunterricht, erst in der Sowjetunion und später in Deutschland gelernt habe, heute stattfindet, während wir vor dem Fernseher sitzen.
Dass wir Explosionen, zerstörte Häuser, fliehende Menschen sehen, dass wir Begriffe wie »Panzerangriff«, »Mobilmachung«, »schwere Gefechte«, »Beschuss« lesen, dass der Krieg von heute, in unserem Europa, ein Krieg ist, in dem Sinne, in dem ich ihn in der propagandagetränken und von Gedenken an den Zweiten Weltkrieg durchdrungenen Kindheit nachgespielt habe: Da sind die Deutschen, und hier sind wir, die Guten, die sowjetische Armee, und diese Rutsche auf dem Spielplatz ist unser Panzer. Wie naiv, wie privilegiert, dass ich das heute feststelle, dass der Krieg ein Krieg ist; wie vermessen war es von uns zu glauben, dass der Krieg in Europa in die Geschichtsbücher gehört.
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Ohnmächtig die Kommentare aus Russland lesen, jene, die sich nicht in den staatlichen Medien finden, die verzweifelt, verloren klingen, die nach der eigenen Verantwortung fragen: »Ich habe ihn nie gewählt, aber hätten wir trotzdem was tun können?«. »Ich schäme mich«, schreibt einer, und das trifft mich, weil er plötzlich etwas benennt, was ich auch in mir spüre.
Obwohl ich elf Jahre alt war, als ich Russland verließ, obwohl ich nie wahlberechtigt in diesem Land war, obwohl ich es, so wirft mir Verwandtschaft vor, wenn ich da alle paar Jahre für ein, zwei Wochen hinkomme, gar nicht mehr kenne: »Du kennst unser Leben nicht, Du blickst mit Deinen deutschen Augen auf uns.«
Sich schämen, obwohl mein Kopf weiß, wie nationale Identitätsbildung geschieht, vielleicht, sich schämen als Mensch. Dass wir alle zugelassen haben, dass wir zugesehen haben über Jahre, wie wirtschaftliche Geschäfte wichtiger waren als die Wahrung von Menschenrechten, weil wir uns damit begnügt haben, mit dem Finger zu zeigen und uns zu empören.
Jetzt schlagen wir, jetzt schlage ich die Hände vor dem Gesicht zusammen, wiederholen wie ein Mantra, wie ein Gebet: »Ich glaube es ja nicht.« Die »Nowaja Gaseta«, eine der wenigen verbliebenen unabhängigen Zeitungen in Russland, erscheint am Freitag zweisprachig, auf Russisch und Ukrainisch, sofort Tränen in meinen Augen wie Donnerstag schon, als ich die Videos von den Menschen sah (und immer und immer wieder sah), die abgeführt wurden, weil sie friedlich gegen eine Politik demonstrierten, die das Antonym zu »friedlich« ist.
»Wir sind doch Brüder und Schwestern«, schreiben Russ:innen in ihrer Ohnmacht, auch das ein Gefühl, das ich kenne, während ich mir bewusst mache: War es nicht die Sowjetunion, die mir das einschärfte? Und dabei sehr erfolgreich jedes nationale ukrainische Bewusstsein, jede Kulturtraditionen, die Sprache unterdrückte, bis wir Kinder nicht mehr hinterfragten, warum unsere ukrainischen Freund:innen so selbstverständlich Russisch sprachen?
Ohnmächtig und machtlos
»Wir sind doch Brüder und Schwestern.« Steht es Russ:innen zu, diesen Satz zu bilden, frage ich mich, dann fällt mir auf, während ich heute versuche, Wolodymyr Selenskyj zu verstehen: An den Klang des Ukrainischen, an den erinnere ich mich aus meiner Kindheit nur aus Liedern, die weiter gesungen wurden, sie sind in meiner Erinnerung melancholisch und fröhlich zugleich, ohne dass darin ein Widerspruch steckt, und ich dichte ihnen an, diesen Liedern, sie hielten die Ukraine fest, bewahrten dem imperialen sowjetischen Denken zum Trotz die Sprache.
Denke darüber nach, dann vibriert das Handy: Wieder eine Explosion in Kiew. Ohnmächtig und machtlos lesen, was heute eigentlich dasselbe ist wie gestern.