Trump-Roman von Salman Rushdie Postfaktisch im Gemeinschaftsgarten

Salman Rushdie, der Meister der Magie und Imagination, hat resigniert: In seinem neuen Roman "Golden House" schreibt er so newsaktuell wie lange nicht mehr. Da wird der US-Präsident schnell mal zum bösen Joker.
Salman Rushdie

Salman Rushdie

Foto: Ben A. Pruchnie/ Getty Images

Eines Tages schlägt Riya morgens die Augen auf und weiß: Ihre Prioritäten haben sich verschoben. Also das mit der Identität. "Ich bin fertig damit", schreibt sie. Sechs Anläufe braucht sie für den Brief, um ihrem Arbeitgeber zu kündigen - dem New Yorker Identitätsmuseum.

Nun ist Riya zwar eine Nebenfigur in Salman Rushdies neuem, drängend aktuellen Roman "Golden House". Aber zum einen schert er sich bekanntlich herrlich wenig darum, wer nach gängigen Genreregeln wie viele Zeilen verdient, zum anderen ist jene klare Absage an die Musealisierung von Identität so etwas wie der Brennstoff der ganzen Geschichte. (Lesen Sie hier ein aktuelles Interview mit Rushdie.)

Die erzählt von dem millionenschweren indischen Verbrecher-Patriarchen Nero Golden samt drei Söhnen, die sich auf der Flucht nach New York schnell mal einen römische Megalomania-Namen und neue Lebensläufe verpassten. Und deren "Wahrheit" ihr Nachbar, der Ich-Erzähler, als selbsternannter Chronist zu entschlüsseln versucht, bis er in seiner Rolle im Plot selbst komplett verrutscht, Dokumentarisches und Inszeniertes bis zur Unkenntlichkeit verwebt.

Ein Präsident mit grünen Haaren

Es verblüfft, wie resigniert der Roman da trotz des Themen- und Popkulturfeuerwerks aus Gender-Debatte, Kuckucksei-Kindern, Immigration, religiösem Gaga, Initiationsriten und Filmemachen zuweilen klingt. Sonst feiert Rushdie, der außer dem Nobelpreis quasi alles gewonnen hat, die Imagination in Dur mit den knalligsten Konfettikanonen, als gäbe es kein Morgen. Auch weil sie seit 28 Jahren als sein Überlebensmittel unter Ajatollah Chomeinis Fatwa dient. Und nun ist es, als sinniere er, welche Funktion Kunst, egal ob E oder U, überhaupt noch haben kann, wenn schon die Wirklichkeit die reinste Charade ist.

Und wer kann ihm diesen Ansatz auch verdenken: "Golden House" deckt die zwei Amtszeiten Obamas ab, "als Isis noch eine ägyptische Göttin war" über den Wahlkampf zwischen "Batwoman" und dem "Joker" bis zum Jetzt unter einem Präsidenten mit grünen Haaren, unbenannt doch eindeutig entschlüsselbar, "vollkommen und nachweisbar geisteskrank" in seinem "Palast der Illusionen". Die "U.S.J.", die "United States of Joker", nur noch ein Marvel-Comic-Universum.

Zum gesellschaftspolitischen Fokus passt auch die Verortung: Riss Rushdie im vorigen Roman "Zwei Jahre ..." noch - wie so oft - tausende Jahre und Universen auf, zoomt er nun auf einen ungewohnten Mikrokosmos: einen Nachbarschaftsgarten in New York und seine Anwohner, hier die zwielichtigen Goldens, dort der Ich-Erzähler und Filmemacher René samt Akademiker-Eltern, der nach deren Tod ins Familiennetz der Goldens gerät.

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Rushdie, Salman

Golden House

Verlag: C.Bertelsmann Verlag
Seitenzahl: 512
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Preisabfragezeitpunkt

09.06.2023 01.23 Uhr

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So flüchten sich seine Protagonisten in diesen magischen Gemeinschaftsgarten, zum Albernsein, Flüstern, Weinen. Bis die Gut/Böse-Grenze verschwindet. Drüben Gangster Nero, der langsam reuige Altkaiser, samt der Söhne Apu (dem Occupy-Künstler), Petya (dem autistischen Game-Designer unterm Dach) und D. (dem dionysischen Halbbruder, der seinen Weg zwischen Frau, Mann, Trans und anderen Identitätskategorien sucht). Dazu Neros neue Gattin Vasilisa (griechisch "Königin", klar), eine ausgebuffte junge russische Schönheit mit Prada-Allüren.

Und an der anderen Gartenseite "Nennt mich René", der an seiner gottgleichen "auteur"-Perspektive als Drehbuchautor und Regisseur verzweifelt. Erst recht, sobald er Urheber einer neuen Golden-Geschichte wird, weil er mit Vasilisa ein geheimes Kind zeugt. Und Wahrheit, Fiktion, Lüge und Drehbuch mit Karacho ineinander krachen.

Nun könnte man das ewige postmoderne Spiel um Fakt und Fiktion mit Gähnen quittieren. Doch Rushdies narrativer Kniff geht auf, da er so das heutige Dilemma des Postfaktischen abbildet: Er hat den Roman als selbstreferentielles Filmskript-mit-Notizbuch aus Renés Feder gebaut. Der hängt Drehbuchseiten ein, unterbricht den Lesefluss mit "Schnitt" oder "Wischblende", skizziert Reales als Kamerafahrt. Und nimmt die Welt nur wahr als Spiegel von Kinosequenzen, sei es "Das Fenster zum Hof", "Die Verachtung" oder "Purple Rose of Cairo".

Die emotionale Nähe zu den Figuren bleibt aus

Einen unzuverlässigeren Chronisten der "Wahrheit" gibt es also kaum. Noch dazu einen, der einen dank seiner Kommentare permanent zum Kichern bringt. Indem Rushdie, wie schon in den "Satanischen Versen" oder "Mitternachtskinder", ausgerechnet Film mit Literatur kreuzt, nutzt er konsequent, was das in Social Media so gefragte Medium "Bewegtbild" ausmacht: Es manipuliert - und lässt sich manipulieren. Und wirkt dabei wie echt.

Nur die emotionale Nähe zu Rushdies Figuren, sie bleibt in "Golden House" überraschend aus. All die Plot-Schichten wirken hier wie Wärmedämmung. Selbst die existentiellen Liebesgeschichten, mit denen er einen in "Zwei Jahre ..." noch ins Mark traf, ruft er zwar auf - aber sie lassen kalt.

Vielleicht, weil die Liebe Übermenschliches leisten muss, jetzt, da ganze kulturelle und nationale Identitäten explodieren und implodieren, dank Brexit, der Identitären-Bewegung und der Verwirrung der US-Amerikaner, die plötzlich feststellen, dass sie nicht mehr im tollsten Land der Welt leben. Erschöpft, weil alles in Frage steht, was galt, für jene, die wie René aufwuchsen "in dem Glauben an die Schönheit des Wissens" und der Kunst, und nun als "Elite" genau dafür verachtet werden. Als seien sie Schurken. So fundamental stand die Ideenheimat des einzelnen Menschen lange nicht in Frage.

Auf den letzten Zeilen funkt es dann doch, vor Optimismus. Wenn Rushdie mit einer Kameraspirale alles verschwimmen lässt, bis nur sausende Muster bleiben. Denn wo Bewegung ist, ist Phantasie. Und alles offen.

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