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Salman Rushdie: Bestseller-Autor unter Todesdrohung

Foto: Istvan_Bajzat/ picture-alliance / dpa

Neuer Roman von Salman Rushdie Bad in der Angst

Halb Heldensaga mit Krieg der Welten, Bösewichten und Showdown, halb Liebesgeschichte: Salman Rushdie erzählt in "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte", wie Fanatiker die Welt aus den Fugen heben.

Es ist die reinste Apokalypse. Als habe einer Hurrikan "Katrina" mit dem Sturm "Sandy" multipliziert, das Erdbeben auf Haiti samt Tsunami noch oben draufgepackt. Ein Sturm, "der einschlug wie eine Bombe", was für ein Albtraum.

Der wird noch schlimmer, als Mr. Geronimo, ein Normalo um die 60, eines Morgens aufwacht und seine Plattfüße die Dielen im Schlafzimmer nicht mehr berühren - er schwebt. Ein grandioser Gregor-Samsa-Moment, mit dem Salman Rushdie seinen neuen Roman "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" beginnt.

In "Der Boden unter ihren Füßen" (1999) waren noch Erdbeben am Kontrollverlust schuld. Jetzt ist gleich die Schwerkraft futsch.

Rushdie setzt seine Geschichte also in eine Welt, die gehörig aus den Fugen geraten ist. Was unangenehm vertraut klingt, der ganze Scheiß, von der Terrorgruppe IS über Flug MH17 bis Boko Haram, all das taucht bei ihm verklausuliert, aber deutlich auf - eine Welt also, die ganz grob heute spielt, angesiedelt ungefähr in New York, ein Bad in der Angst.

Jene apokalyptische Zeit, die "Ära der Inkohärenzen", die Phase der "Seltsamkeiten", von der der indisch-britische Schriftsteller hier mit schwindelerregender Wucht erzählt, dauert nach Geronimos Erwachen noch exakt zwei Jahre, acht Monate und 28 Nächte.

Wer schnell rechnet, hat es schon gemerkt: macht 1001 Nacht.

Allein die Idee, Sheherazades Storys auf diese Weise undercover auf den mitternachtsblauen Titel zu packen - und damit das Erzählen selbst - ist einfach unschlagbar gut.

Der Ursprung von Gut und Böse

Sheherazade, Metamorphosen, Heimatverlust: Rushdie spielt seine Dauerbrenner aus, aber diesmal wirkt alles dringlicher, aktueller. Und grundsätzlicher. Er macht das große Fass auf und schreibt nichts weniger als eine philosophische Abhandlung über den Ursprung von Gut und Böse. Nur eben verpackt als funkelnde, lustige, surreale und mit allem von Homer über Henry James bis Hogwarts vollgepfropfte Story.

Die ist halb Heldensaga mit Krieg der Welten, Superheroes, Bösewichten und Showdown, halb Liebesgeschichte zwischen dem indischstämmigen Gärtner Mr. Geronimo und Dunia, einer Dschinn, ewige Formwandlerin und Prinzessin aus der anderen Welt.

Die Phase der "Seltsamkeiten", jene 1001 miesen Nächte, ist der Stellvertreterkrieg zweier Denker. Der eine ein religiöser Fanatiker, der die Menschen zum Glauben treiben will. Sät man Furcht, so seine Logik, laufen alle zu Gott. Der andere der Philosoph Ibn-Ruschd (leider geht in der Übersetzung der Verweis auf den Autor unter), der dagegen Vernunft und Fantasie beschwört.

Am Ende hetzt der Glaubenskrieger aus dem Grab Bösewichte auf die Menschheit, die auch mal auf Wolken sitzend darüber streiten, wer denn nun der Übelste sei; Ibn-Ruschd lässt eine Armee aus guten Dschinns dagegen antreten, die alles in 10D erleben.

Ausschweifend und mit Glitzereffekt

Dieser Ibn-Ruschd ist ein Anti-Sheherazade: Deren Geschichten "hätten ihr das Leben gerettet, während seine sein Leben in Gefahr brächten". Unübersehbar, diese Selbst-Referenz. Seit Erscheinen der "Satanischen Verse" 1988 lebt Rushdie unter Todesgefahr , 26 Jahre nach der Fatwa. So ortlos, dass er sich seine "Imaginary Homelands", gedankliche Heimaten, wie er es einmal nannte, obsessiv in Erscheinung schreibt.

Dazu gehört, dass er wie immer Definitionen auflöst, als seien es Gummibärchen, die er ins Wasser wirft: Raum, Zeit, Fakt, Fiktion, pff. Sogar seine Heldin Dunia ist unscharf. Als Erzählstimme meldet sich aus einer 1000 Jahre fernen Zukunft ein "Wir": Man streite sich bei der Geschichte, "ob wir sie als Historie oder Mythologie bezeichnen sollen. Manche nennen sie Märchen." Auch das Erzählen selbst ist längst vom Boden abgehoben.

Ja, natürlich ist Rushdie wieder unfassbar ausschweifend, streut schichtweise narrative Glitzereffekte in den Plot, sein menschelnder Cast ist riesig - weil er es kann. Manchen mag das zu viel sein, andere werden kichern, weil sie seiner Imagination beim Arbeiten zuschauen. Etwa wenn er aufdröselt, wie man schwebend Auto fährt oder pinkelt, oder dass er die Dschinn als faule Säcke entwirft, die lieber poppen statt zu kämpfen. Und, ja, in den Kapiteln mit dem kriegerischen Hin und Her bleibt eine bizarre Leerstelle, was die Menschen betrifft.

Trotzdem gibt es neben Rushdie keinen, der so stringent und beneidenswert lässig Computerspiel-Strategien, Marvel-Comic-Zitate, griechische Mythologie, indischen HipHop-Slang und eben 1001 Nacht in schönstem postmodernen Chaos zusammenwebt. Hier passen René Magritte, Medusa, Yoruba-Göttinnen, ein super platziert abgedruckter Goya-Stich, "Terminator", Aristoteles zum wie Sinatra croonenden Präsidenten. Dazwischen düst eine Tequila saufende Dschinn herum, die Frauenverächter jagt, ihr Superheldenname: "Mutter". Endlich erfindet jemand so eine Figur!

Nach diesem Buch fragt man sich mal wieder, wieso einer, der die humanitäre Kraft der Literatur postuliert und sie im Schreiben selbst reflektiert, keinen Nobelpreis hat. Er feiert die Kraft der Worte als Gift und Gegengift zugleich. Es ist eine einzige fantasietrunkene Party gegen den Irrsinn der Welt.

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