Ostdeutsche Provinz Null Kneipen, aber Sterni mit Schnittchen

Sasa Stanisic: Lost in der Uckermark
Foto: Katja SämannMan muss sich das fiktive Fürstenfelde unbedingt als exotischen Ort vorstellen, aber wahrscheinlich nicht schrulliger oder bizarrer als andere Dörfer auch: Jedenfalls, wenn man von Prenzlauer Berg, Eimsbüttel oder Schwabing auf das Kaff an sich schaut. Fürstenfelde liegt in der Uckermark und ist der Spielort von Sasa Stanisics neuem Roman "Vor dem Fest". Es gibt dort einen ehemaligen Briefträger, der jetzt Rassehühner züchtet. Einen Ex-Junkie, der jedem die Story seiner Befreiung aus der Dröhnung erzählt. Einen Halbstarken, der "Lada" heißt und sein Auto regelmäßig nur zum Spaß in einem der beiden Seen versenkt, die dem Örtchen seinen landschaftlichen Reiz geben. Also Personen mit Unique Selling Point, die für ein Tableau skurriler Szenen taugen und mit denen sich ein Ort der ehemaligen DDR vermessen lässt.
Die Einwohnerzahl ist fallend, Angela Merkel hat sich mal im Fahrtenbuch des örtlichen Fährmanns verewigt. Es gibt anderthalb Nazis in Fürstenfelde und eine trübsinnige Dorfhistorikerin, die Frau Schwermuth heißt. Manchmal verirren sich Amerikaner in die Uckermark, um herauszufinden, aus welcher Einöde ihre Vorfahren kamen. Anders als früher gibt es in Fürstenfelde, diesem Idealtypus des wendeversehrten Ost-Gemeinwesens, keine einzige Kneipe mehr. Es waren mal sieben, jetzt wird das Sterni - 80 Cent die Flasche - bei Ulli in der Garage ausgeschenkt.
Es gibt nicht viel zu tun im kleinen Fürstenfelde, aber für seinen literarischen Kosmos erfindet Stanisic, der 1978 im bosnischen Visegrad geborene Erzähler, eine dramatische Zuspitzung der Nacht vor dem Höhepunkt des Jahres, dem Annenfest: Im Dorfarchiv wird eingebrochen, Frau Schwermuth dreht durch, und Herr Schramm, der ehemalige Offizier bei der NVA, überlegt, ob er sich umbringen soll. Am Nachmittag noch hat er aus Wut über einen unbotmäßigen Zigarettenautomaten auf ebendiesen geschossen.
Sagenwelt mit Räubern und Feuersbrünsten
Klingt albern? Ist es. Aber auf gelungene Weise. Denn was Stanisic mit seinem glänzend geschriebenen Dorfstück gelingt, das ebenso gut als ironisch abgefederte Heimatkunde wie literarische Tragikomödie durchgeht, ist die Indienstnahme des Klischees, ohne dass Stereotypen noch wie solche wirken. Stanisic ist mit "Vor dem Fest" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Es ist sein erster Roman seit dem 2006 erschienenen, international erfolgreichen "Wie der Soldat das Grammofon repariert", in dem der 1992 nach Deutschland gekommene Stanisic herrlich über den Verlust der Heimat und das Ankommen in einem fremden Land fabulierte.
Damals brachte er nicht nur einen frischen Ton, sondern mit der tragischen und blutigen Geschichte Ex-Jugoslawiens auch ein neues Thema in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Stanisics Prosa war ein leuchtendes Beispiel einer Immigrantenpoetik, die mit Konventionen bricht und das vermeintlich langweilige deutsche Einerlei mit ihrer Lebendigkeit und anderen, bikulturellen Erfahrungen befruchtet - und die Stanisics Autorenkollege Maxim Biller zuletzt wieder vehement einforderte. Gegen Stanisics Ausflug in die Uckermark ätzte Biller in der "Zeit"; hier schreibe jetzt "ein Neudeutscher über Urdeutsche".
Das stimmt insofern, als Stanisics in "Vor dem Fest" auch in die Ursuppe des Dorfs eintaucht, in seine Sagenwelt mit Räubern, Pest-Katastrophen und Feuersbrünsten. Das Germanische war halt noch nie leicht und beseelt, egal ob im Mittelalter oder bei den Sozialisten. Es ist die Figur der Frau Schwermuth, die von den alten Geschichten nicht lassen kann und darüber depressiv wird.
Die Figuren in "Vor dem Fest" stapfen somnambul durch ihren Wald und über ihre Wiesen, haben keine Lust mehr und machen trotzdem irgendwie weiter. Sie freuen sich auf die traditionelle Fürstenfelde-Party, auch wenn es auch da wieder nur Sterni gibt, diesmal aber halt mit Schnittchen. In Fürstenfelde sagen sich übrigens nicht Hase und Igel gute Nacht, sondern Huhn und Füchsin. Letzterer gönnt Stanisic mehrere Auftritte, sie stören nicht weiter, fügen dem Plot aber auch nichts Wesentliches hinzu: Der Fuchs gehört zur Mythenwelt und zu den alten Geschichten, die hier alle Zeiten überleben. Stanisics Nachahmung der altertümlichen Sprache, wenn er die Archivtexte zitiert, verknüpft die Erzählgegenwart mit der Vergangenheit - die Menschen hier sind geerdet.
Der neue Stanisic-Stoff hat mit dem seines vorigen Romans nichts gemein, der Humor ist allerdings derselbe. Die stilistische Meisterschaft auch. Dass sich sein Beschreibungstalent nun andere Gegenstände sucht, muss nicht gegen ihn verwendet werden, im Gegenteil: Er setzt der uckermärkischen Provinz nicht nur ein Denkmal, er schenkt ihr auch eine lässige Selbstironie, wenn er beständig ein "Wir" zu Wort kommen lässt, dass nichts anderes sein kann als der Dorfgeist, der in Fürstenfelde herrscht und sich nicht so schnell aus der Reserve locken lässt.
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