Schwedens Kultautor Klas Östergren Der Schattenmann
Ein schattiger Platz in Stockholms Arbeiter- und Künstlerviertel Södermalm. Bouleskugeln klackern auf dem Sandboden, junge und alte Männer diskutieren über den Spielstand, den sie mit Hilfe von Maßbändern überprüfen. "Ich habe in meinem Leben zwar schon vieles ausprobiert, aber Touristenführer war ich noch nie", sagt Klas Östergren und leitet die kleine Journalistengruppe aus Deutschland zu einer Straßenecke. Er deutet auf den Asphalt und erzählt von unterirdischen Gängen, in denen Henry Morgan früher nach einem Schatz gesucht habe. Später bleibt er vor einem Ehrfurcht gebietenden Altbau stehen und sagt: "Das ist die Adresse von Henry Morgan, und hier habe auch ich einige Jahre lang gewohnt."
Dazu muss man wissen, dass das hier keine gewöhnliche Stadtführung ist. Klas Östergren ist kein Fremdenführer, sondern ein bekannter schwedischer Schriftsteller, "der beste Autor Schwedens", befand gar die Tageszeitung "Dagens Nyheter".
Und Henry Morgan ist kein schwedischer Prominenter oder Nationalheld, auf dessen Spuren der Stockholm-Tourist wandelt, sondern eine Romanfigur. So wie Östergren, 52, der in seinem tadellosen Sommeranzug verwirrend alterslos wirkt, von Henry Morgan erzählt, als sei er ein Mensch aus Fleisch und Blut, ahnt man, dass beide, der Schriftsteller und seine Figur, untrennbar miteinander verbunden sind.
Man kann sich beide wunderbar in einem mondänen Café in einer europäischen Metropole vorstellen, in eine Tageszeitung vertieft, vor sich einen Espresso. Oder in einer verrauchten Kneipe, diskutierend beim Bier. Nur an den Schreibtisch in einem Bauernhof in Südschweden, an den passt der Schriftsteller besser als seine Schöpfung. Den Hof hat Östergren in seinen Schreibpausen selbst wieder aufgebaut; nun bewirtschaftet er ihn zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern. Dennoch ist Stockholm seine Stadt, die Stadt seiner Jugend, der er mit seinen beiden Romanen "Gentlemen" und "Gangster", die nun bei Pendo in neuer deutscher Übersetzung erschienen sind, ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Denn in beiden Büchern - "Gentlemen" erschien in Schweden bereits 1985 und avancierte zum Kultbuch der damals jungen Generation, "Gangster" folgte 20 Jahre später und wurde ebenfalls zum Bestseller - spielt die schwedische Hauptstadt und vor allem das Viertel Södermalm mit seinen Gassen und Winkeln, den Kneipen und Cafés eine besondere Rolle. Hauptschauplatz in "Gentleman" ist eben jenes düstere Wohnhaus in der Hornsgatan, das Östergren als junger Mann bewohnte. Genauer gesagt, eine riesige, hochherrschaftliche Wohnung voller gewaltiger Nussbaummöbel, die fernab allen Trubels in einer "konservierenden antiquarischen Dunkelheit" vor sich hin dämmern.
Alkohol, Zigaretten - und ein Wirtschaftsskandal
In diese Wohnung zieht der Ich-Erzähler, der den Namen des Autors, Klas Östergren, trägt, auf Einladung eines Bekannten aus dem Box-Club. Östergren, ein junger Schriftsteller Anfang 20, ist fasziniert von der einnehmenden, aber ambivalenten Persönlichkeit seines Mitbewohners Henry Morgan. Der Boxer, Jazz-Pianist und Lebenskünstler ist stets korrekt mit Krawatte und teuren Oberhemden gekleidet: "Er war das Bild des perfekten Gentleman, ein merkwürdiger Anachronismus". Ein launischer und unberechenbarer noch dazu.
Die beiden leben wie wahre Bohemiens, ohne Geld, aber mit Alkohol, Zigaretten und Ideen en masse. Östergren taucht immer tiefer in Morgans Welt ein, lernt dessen Bruder Leo kennen und dessen Geliebte Maud, sowie deren Zweitfreund, den undurchsichtigen Geschäftsmann Wilhelm Sterner. Dabei stößt er auf die Spur eines der größten Wirtschaftsskandale der schwedischen Nachkriegsära, den mächtige Hintermänner um jeden Preis vertuschen wollen.
Klas Östergren entfaltet in "Gentlemen" ein gewaltiges Gesellschaftspanorama, dessen labyrinthische Handlungsstränge er in separaten Kapiteln auffächert, die abwechselnd Henry und Leo Morgans Lebensgeschichte erzählen. Dennoch lässt sich die Handlung schwer auf einen Plot reduzieren, was allerdings kein Nachteil ist. Östergren erzählt anekdotisch, streift historische Ereignisse, jedoch ohne sie konkret zu benennen. Die große Geschichte spiegelt sich im Kleinen und umgekehrt. Dabei scheut er nicht den universellen Anspruch: "Ich will ein Puzzle entwerfen, das alles einschließt, was ich über das Leben weiß."
Zappeln vor Spannung
Man braucht Geduld, um diese ungewöhnlichen Romane zu lesen, denn Östergren greift nach Art des Flaneurs dies und das vom Wegesrand auf, mäandert durch die Geschichte und widmet sich seitenweise auch scheinbar Unwichtigem. Als Leser tastet man sich zunächst unsicher durch den Wortstrom, erst im Nachhinein fügen sich die Einzelteile zu einem großen Ganzen. Das Erstaunliche: Obwohl sich der Autor bei diesem Verfahren durchaus auch lose Enden erlaubt, vibriert der Text vor Spannung. Doch auch hier lässt Östergren seine Leser zappeln, denn die Krimi-artigen Verstrickungen werden im ersten Buch nicht aufgeklärt.
Jahrelang habe er nicht im Traum daran gedacht, eine Fortsetzung des überaus erfolgreichen "Gentlemen" zu schreiben, erzählt Klas Östergren. Doch dann habe er das Buch, das er als junger Mann von 25 Jahren schrieb, wieder gelesen. "Ich bin dabei nur selten errötet", grinst der Schriftsteller, "und ich fand, dass es immer noch Charme hatte". Außerdem plage er sich oft damit herum, etwas nicht gesagt oder geschrieben zu haben. Eine Forstsetzung von "Gentlemen" bot die einmalige Gelegenheit, Themen, die ihn schon früher beschäftigten, mit gehörigem Abstand noch einmal aufzugreifen.
Und tatsächlich: Der Furor der Jugend ist verflogen. Wo "Gentlemen" das arme Künstlerleben pittoresk verklärt, ist "Gangster" politischer und philosophischer. "Heute weiß ich es besser" lautet das Mantra des Ich-Erzählers. Und auch die Weltsicht des Autors ist pessimistischer: Aus Gentlemen sind Gangster geworden, das Leben und seine Begleiterscheinungen haben sie korrumpiert. Allen voran Henry Morgan, der ein Schattendasein führt in "Gangster" und nicht mehr selbst in Erscheinung tritt.
Ein Buch wie eine Bombe
Klas Östergren benutzt die schmutzige Wirtschaftsintrige um Korruption und Kollaboration, um mit seinem Land hart ins Gericht zugehen: "Ich mag die schwedische Selbstwahrnehmung nicht, immer die Guten zu sein. Tatsächlich wurde zum Beispiel in der schwedischen Exportpolitik nach dem Krieg viel Unsinn verzapft", sagt er.
Seine Gesellschaftskritik kleidet Östergren in ein raffiniertes Spiel mit Authentizitätsebenen: "Das Buch war eine Bombe geworden, und es in die Öffentlichkeit zu lassen würde vermutlich einem Selbstmord auf offener Bühne gleichkommen." Der Leser erfährt, dass sich die Dinge "in Wahrheit" gar nicht so zugetragen haben, wie in "Gentlemen" beschrieben. Denn auf Druck eines unheimlichen Agenten, der nur der "Envoyé" genannt wird, musste der Ich-Erzähler Details weggelassen und verfremden, als er die Geschichte von Henry und Leo Morgan aufschrieb.
Unterschiedliche Zeitebenen durchdringen und verschachteln sich in "Gangster", Sätze und Szenen aus "Gentlemen" kehren wieder und ergeben nach und nach, wie in einem fotografischen Entwicklungsprozess in der Dunkelkammer, ein mal mehr, mal weniger scharfes Bild. Die Vergangenheit ist auf ihm trotzdem deutlich erkennbar.
Klas Östergren: "Gentlemen", "Gangster", Pendo Verlag, 528 beziehungsweise 464 Seiten, je 22,90 Euro