Buch über Bordell-Selbstversuch So antörnend wie eine kaputte Neonröhre

Die französische Autorin Emma Becker arbeitete mehr als zwei Jahre in einem Berliner Bordell. In ihrem Buch beschreibt sie den Arbeitsplatz als kuscheligen Ort - bis ein psychopathischer Freier kommt.
Autorin Becker: "Du hältst mich bloß für eine Nutte, aber ich bin auch Schriftstellerin, und eines Tages werde ich ein Buch über alles schreiben"

Autorin Becker: "Du hältst mich bloß für eine Nutte, aber ich bin auch Schriftstellerin, und eines Tages werde ich ein Buch über alles schreiben"

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Joel Saget / AFP

Der Franzose ist dick und hat feuchte Hände. Im Bett ist er unerfahren, Justine quält sich mit ihm ab. Beim Cunnilingus geht er so emotionslos vor, als würde er an einer Werkbank herumlaborieren. Beim Orgasmus, den er schließlich - göttliche Fügung? – bekommt, bringt er keinen Ton heraus. Als er nach 60 Minuten seine graue Unterhose anzieht, schwankt sie zwischen Mitleid und Verachtung für ihren Landsmann. Auch Ignoranz im Bett kann peinigend sein.

Für ihren dritten Roman "La Maison" hat Emma Becker selbst in Berlin im Puff gearbeitet, zweieinhalb Jahre lang. Das Bordell, das im Roman "La Maison" heißt, hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Beckers "Künstlername", wie sie sagt, war tatsächlich Justine. Ihr Roman ist Autofiktion, die Hauptfigur trägt deutlich Züge der Autorin, dagegen hat sie bei ihren Kunden und Kolleginnen einiges verändert, damit sich am Ende keiner wiedererkennt. Auch der peinliche Franzose dürfte ein Mix aus verschiedenen Freiern sein. Die Szene über den gequälten Cunnilingus ist übrigens saukomisch - wie so manches im Roman der 31-Jährigen.

Das Thema Prostitution spaltet die gesellschaftliche Debatte. Wer ein Enthüllungsbuch über Zuhälter, Gewalt und Misshandlung erwartet, wird enttäuscht. "La Maison" ist ein eher kuscheliger Ort, wo sich die Freier überwiegend zivilisiert verhalten und die Huren untereinander solidarisch sind. "Ich war dort gut aufgehoben, wie in einer großen Familie, und konnte gut von meinen Einnahmen leben", sagt Becker. "Ich habe mich selten als Opfer gefühlt, sondern wurde von den meisten Kunden respektiert."

Über feuchte Schamlippen spricht sie so selbstverständlich wie andere über Spülmaschinentabs

Dass sie mit ihrer französischen Herkunft im Berliner Puff als kleiner Star gehandelt wurde, verhehlt sie im Buch nicht. Auf dem Cover sieht man sie als sinnliche Frau, im Interview trägt sie einen flaschengrünen Overall, keinen Schmuck und wenig Schminke. Über Penetration und feuchte Schamlippen spricht sie so selbstverständlich wie andere Menschen über Spülmaschinentabs.

In Frankreich hat "La Maison" im letzten Jahr für Aufsehen gesorgt, nicht nur wegen des Sujets, sondern weil es literarisch durchaus anspruchsvoll ist. Becker hat sogar mehrere Preise abgeräumt. Allerdings hat der Roman auch provoziert. Feministinnen warfen der Autorin vor, sie verharmlose ein Metier, in dem Gewalt und Ausbeutung an der Tagesordnung sind. Emma Becker ärgern solche Vorwürfe. "Natürlich gibt es das alles. Ich habe in meinem Buch auch von einem anderen Bordell erzählt, wo die Arbeitsbedingungen deutlich schlechter sind als in 'La Maison'. Ich bin dort aber nicht lange geblieben. Insgesamt waren meine Erfahrungen in dem Job durchaus positiv."

Und trotzdem: Es gibt einige Szenen im Buch, bei denen man beim Lesen die kalte Wut bekommt. Da ist der Freier, offensichtlich ein Psychopath, der von Sex mit Minderjährigen träumt und auch in Justine ein blutjunges Mädchen sehen will, das sich ihm nicht widersetzen kann. Der Mann klemmt sie unter sich ein, ohrfeigt sie, schlägt sie, packt sie an der Kehle, zerrt sie an den Haaren. Bis er schließlich von ihr ablässt und sich kleinlaut entschuldigt. Wie hält man so etwas aus, wieso hat sie trotzdem weitergemacht?

"Das war furchtbar, ich war total wütend, fühlte mich gedemütigt", sagt Becker. "Gleichzeitig habe ich mich innerlich gepanzert und gedacht: Du hältst mich bloß für eine Nutte, aber ich bin auch Schriftstellerin, und eines Tages werde ich ein Buch über alles schreiben." Mit solchen mentalen Tricks habe sie häufiger gearbeitet, um Distanz zu bekommen. Ebenso, wenn sie ihren Freiern Lust vorspielte. Sie habe sich dann vorgestellt, sie sei Schauspielerin in einem Theaterstück.

Wie wird eine junge Frau aus dem Großraum Paris, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammt - der Vater Unternehmer, die Mutter Psychologin - zur Hure? Die auf ein katholisches Gymnasium gegangen ist und an der Sorbonne Literatur studierte? Emma Becker - Becker ist ihr Künstlername, in Wirklichkeit heißt sie Durand - sagt, sie habe sich schon früh für Erotik interessiert und die Sexszenen in den Romanen aus der Bibliothek ihrer Eltern verschlungen.

Die verklemmte Atmosphäre im Gymnasium nervte und provozierte sie. "Wir mussten uns sehr züchtig anziehen, und uns wurde immer suggeriert, dass wir als Frauen eine Herausforderung für die Männer sind. Über Sex wurde im Biounterricht kaum gesprochen. Ich wollte aber mehr wissen."

2013 zog Emma Becker nach Berlin, sie kannte die Stadt, weil eine ihrer Tanten dort lebte. "Paris empfand ich als erstickend, zu eng, zu teuer", sagt sie. Deutsch konnte sie leidlich, aus der Schule und weil ihre deutsche Großmutter sie mit der Sprache traktiert hatte.

Den Rest lernte sie im Puff. In Berlin schrieb die Autorin ihren zweiten Roman über eine junge Frau, die einen sehr viel älteren Liebhaber hat. Auch sie selbst hat immer wieder Beziehungen zu älteren Männern gehabt, die "Vaterfiguren" für sie waren, wie sie sagt. Ihren eigenen Vater hat sie als schüchtern und in sich gekehrt erlebt, er war "ein Rätsel".

Die Idee zu "La Maison" kam ihr, als sie in Berlin an einem Bordell vorbeiging. "Ich wollte immer wissen, wie sich Sex als Job anfühlt, was im Kopf einer Hure passiert. Aber ich wollte nicht journalistisch recherchieren, sondern das Milieu wirklich kennenlernen, von innen heraus. In Frankreich ist Prostitution verboten, deshalb ging das dort nicht." 

Gelegentliche Kollisionen mit ihrem Privatleben hat Emma Becker, die Mutter eines fast vierjährigen Sohnes ist, in Kauf genommen. Als sie in "La Maison" anfing, war sie solo. Nachdem sie ein paar Monate später ihren Freund kennengelernt hatte, war der nicht gerade begeistert, nahm es aber hin. Auch, wenn sie nach einem langen Arbeitstag nicht zwangsläufig Lust auf Intimität hatte.

Vier Jahre hat Emma Becker an ihrem Buch gearbeitet. Die Autorin kannte die einschlägigen Bücher, die das Milieu spiegeln, etwa Émile Zolas "Nana" oder die Schriften von Georges Bataille. "La Maison" hat zwar Längen, ist aber insgesamt ein erstaunlich gutes Buch mit einfühlsamen Porträts der Huren und ihrer Kunden.

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[Becker, Emma]

La Maison: Jetzt im Kino

Aus dem Französischen von:: Claudia Steinitz
Erscheinungsdatum: 15. September 2020
Verlag: Rowohlt Buchverlag
Seitenzahl: 384
Für 21,70 € kaufen

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02.06.2023 22.03 Uhr

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Ihre eigene Dienstleistung beschreibt Becker im Buch immer wieder mit unverhohlenem Humor. Etwa, wenn sie sich über einen ihrer Freier, einen verlegenen Kanadier mit einer "zaghaften Erektion", lustig macht: Der Mann törnt sie in etwa so an wie eine kaputte Neonröhre.

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