Zeitgeist-Roman "Wie sollten wir sein?" "Girls" in Toronto

Sheila Heti: "Du mit deinem Aufnahmegerät bist so gruselig"
Foto: Nikola TamindzicBitte vergessen Sie sofort den deutschen Titel "Wie sollten wir sein?" von Sheila Hetis neuem Roman. Der ist nicht vollkommen missglückt, im Original "How Should a Person Be?" steckt aber alles drin, um das es in diesem bemerkenswerten, aufwühlenden Buch geht: Ums Fragen stellen, ums Sein, ums Ich und keinesfalls ums Wir.
ICH. Erzählerin des Buchs ist eine Frau namens Sheila, die mit der Autorin nicht nur den Vornamen teilt, sondern auch Wohnort (Toronto), Alter (37 Jahre), Ausbildung und Arbeit (Literaturstudium, Auftragsarbeiten fürs Theater) und Freunde (eine Malerin namens Margaux, einen Autor namens Misha). Auch viele Dialoge haben ihren Weg von Hetis Leben in das Buch gefunden. Sie hat ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen, wenn sie sich mit ihren Freunden zu längeren Gesprächen zusammen gefunden hat und diese Dialoge transkribiert.
Was dabei besprochen wird, ist oft schwer zu bestimmen - zum einen, weil die Dialoge so sprunghaft wie im echten Leben verlaufen. Zum anderen, weil das schwer Fassbare selbst auch Thema der Gespräche ist. Immer wieder sucht die mehrheitlich aus Kreativen bestehende Gruppe nach verbindlichen Kategorien und Wertigkeiten für ihre Kunst und damit mittelbar auch für ihr Leben. Ist die Ära des Romans vorbei? Wenn ja, was ist die Kunstform, die seinen Platz eingenommen hat? Was macht ein schönes Bild aus, was ein hässliches?
Es sind denn auch künstlerische Problematiken, die für die größten Konflikte sorgen: Margaux und ein befreundeter Maler starten einen Wettbewerb, wer das hässlichere Bild malen kann; Sheila scheitert daran, ihr feministisches Theaterstück fertig zu schreiben; Margaux und Sheila zerstreiten sich, weil auch die Romanfigur Sheila die Gespräche mit der Freundin aufgenommen und transkribiert hat. "Weißt du nicht, dass ich vor nichts mehr Angst habe, als wenn meine Worte losgelöst von meinem Körper treiben?", wirft Margaux Sheila vor. "Du mit deinem Aufnahmegerät bist so gruselig."
Wenn solche Auseinandersetzungen gleichermaßen egoman wie kleinlich klingen: Nun, das sind sie auch. Die Gruppe um Sheila und Margaux empfindet sich als frei von sozialen und ökonomischen Zwängen. Ihre Leben und ihre Diskussionen führen sie in einem - um es mit dem Literaturmagazin "n+1" zu sagen - Soziologie-freien Raum, in dem nur ästhetisch-philosophische, nie gesellschaftliche Probleme besprochen sein wollen. Umso größer ist deshalb das Verlangen der Freundinnen nach dem vermeintlich Unbekannten, nach Regeln, Vorgaben und Beschränkungen - letztlich eben einer klaren Definition, wie ein Mensch zu sein hat.
SEIN. Am deutlichsten tritt diese Spielart der narzisstischen Verunsicherung an Sheilas Beziehungen zu Männern zutage. Zu Beginn des Romans erörtert sie, wie sie unter ihrer Scheidung leidet. Doch es ist ein eigentümliches Leiden, das sie umtreibt: Sie vermisst weder ihren Ehemann noch die Zweisamkeit, sie vermisst das Gefühl, auf die Eheschließung als sinnstiftendes Moment hinleben zu können. Sobald sie verheiratet ist, macht sich eine Leere breit, die auch die spätere Trennung nicht in hoffnungsvolle Neugier zurückverwandeln kann: "Noch so viel Arbeit konnte nicht aufwiegen, was ich seit meiner Entscheidung zu heiraten verloren hatte: meine innere Ruhe und Orientierung in der Welt. Dabei hatte ich früher in jeder Sekunde das wohlwollende Wirken des Schicksals gespürt. (...) Jeder Schritt trug die erwartbare Frucht. Jeder Zufall schien vorbestimmt. Es war wie reines Unschuldigsein, als schwebte ich in Sirup."
Als Konsequenz aus dieser Erfahrung beginnt Sheila Affären mit Männern, die sich besonders auf sexueller Ebene als demütigend gestalten. Einmal lässt sie sich sogar auf die Forderung eines Liebhabers ein, ohne Unterhose ins Café zu gehen und einem älteren Mann ihren Schritt zu präsentieren. Das Experiment endet im Desaster, als sich Sheila unfreiwillig vor einem kleinen Jungen entblößt und von ihm ausgelacht wird.
Spätestens wenn der zweifelhafte Sex Raum greift, werden die Parallelen zu Lena Dunham und ihrer TV-Serie "Girls" unübersehbar. Auch Dunham hat das Personal ihrer Serie aus ihrem persönlichen Umfeld, also einer weißen Künstlerszene rekrutiert; auch der von ihr abgebildete Kosmos ist sozial so geschlossen, dass sie nicht auf die Idee kam, Alltag jenseits ihres eigenen zu zeigen und zum Beispiel schwarze Schauspieler zu engagieren.
Vor allem aber ist es der demanzipiert daherkommende Sex, der die zeitdiagnostischen Qualitäten von Buch und Serie offenlegt. Für die dargestellten jungen Frauen sind die Wahlmöglichkeiten im Beruflichen wie im Privaten so exponentiell gestiegen, dass sie Anspruchsdenken und Überforderung zugleich produzieren. Die Protagonistinnen möchten nichts werden, sie möchten etwas sein. Sie wollen Eigenschaften, nicht Errungenschaften. Ausgerechnet Sex, bei dem man seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt und den Mann bestimmen lässt, scheint so Erleichterung vom ständigen Zwang zur Selbstverwirklichung zu bieten.
Im Prolog spitzt Heti die essentialistischen Sehnsüchte ihrer Kohorte am prägnantesten zu: "Wie sollten wir sein? Manchmal frage ich mich das und komme nicht umhin, folgendermaßen zu antworten: wie Berühmtheiten. (...) Aber so sehr ich auf Berühmtheiten stehe, niemals würde ich irgendwo hinziehen, wo sich Berühmtheiten tatsächlich aufhalten. (...) Ich will, dass sich nichts ändert, außer dass ich so berühmt bin, wie man eben sein kann, ohne dass sich irgendetwas ändert. (...) Es geht hier um das Streben nach dem Wesen des Ruhms, ganz ohne dessen Wesenheiten."
FRAGEN. Liefert "How Should a Person Be?" ein authentisches Generationenporträt? Sind es relevante Probleme, die den Freundeskreis umtreiben? Mag man Heti oder erscheint sie einem im Kern reaktionär? All die Fragen, die sich in der Regel mit Verweis auf die Eigenständigkeit von Literatur abtun lassen, verankert Heti mit ihrer Vermischung von dokumentarischen und literarischen Methoden im Buch selbst.
Zwischen sich, ihren Freunden und ihren Romanfiguren gibt es keine klaren Grenzen mehr, Roman und Wirklichkeit greifen zu sehr ineinander. So erhält das Buch eine Unmittelbarkeit, die in grellem Kontrast zu seiner inhaltlichen Vagheit steht. Denn natürlich findet die Romanfigur Sheila keine Antwort auf die titelstiftende Frage, genauso wenig wie das Buch selbst eine Antwort darauf nahelegt.
Soll ein Roman so sein? Wer Lust am Fragen, Erkunden und Grenzenüberschreiten hat, der wird zumindest die Antwort auf diese Frage wissen.
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