Siba Shakib "Die Frauen Afghanistans werden kämpfen"
Shirin-Gol will nur wenig für sich und ihre Familie: Ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, Kleidung, ein paar Bücher. Das ist nicht viel, doch in Afghanistan seit mehr als zwanzig Jahren schier unerreichbar. Als junges Mädchen erlebt Shirin-Gol den Einmarsch der Russen, flüchtet aus ihrem entlegenen Bergdorf nach Kabul, dann nach Pakistan, später in den Iran und kommt immer wieder nach Afghanistan zurück. Sie gründet eine Familie, wird vergewaltigt und missbraucht. Ihr Mann wird bei einer Schmuggeltour in den Bergen schwer verletzt und erträgt sein Leiden nur noch mit Opium. Zwei ihrer sechs Kinder stammen von anderen Vätern. Ein Junge ist das Kind ihrer Vergewaltigung durch drei pakistanische Polizisten, ein Mädchen geht aus ihrer Beziehung zu einem Schmuggler hervor, dem sie zu Willen sein muss, um ihre Schulden abzahlen zu können.
Es ist kaum zu glauben, dass einer Frau allein diese furchtbaren Dinge zugestoßen sein sollen. Doch die Journalistin Siba Shakib kennt viele solcher Schicksale: "Manche Frauen sind noch weiter geflohen: nach Tadschikistan, Usbekistan und sogar nach Moskau. Es ist unglaublich, was diese Menschen durchmachen." Shakib hat die junge, tiefverschleierte Afghanin in einem Flüchtlingslager an der Grenze zum Iran kennen gelernt und zuletzt im Sommer 2000 getroffen. Die beiden Frauen haben sich in Dari unterhalten, einer der Hauptsprachen in Afghanistan.
Shirin-Gol selbst lernte in einer russischen Schule in Kabul lesen und schreiben. Vielleicht war sie daher aufgeschlossener, ihre Geschichte einer Fremden zu erzählen. Eine Biografie ist Shakibs Buch jedoch nicht geworden: "Ich habe Shirin-Gol vor Augen gehabt, während ich geschrieben habe. Aber allein sie um zu schützen, habe ich einige Ereignisse in ihrer Biografie verändert, ihr Geschichten hinzugedichtet und andere weggelassen. Wichtig war, dass man sie auf Grund meiner Erzählung nicht wiedererkennt. Denn selbst, wenn morgen Demokratie in Afghanistan einkehren würde, wird sich die Haltung der Männer gegenüber Frauen nicht ändern."
Bislang hat Shirin-Gol überlebt. Siba Shakib, die täglich mit Freunden in Afghanistan in Kontakt ist, vermutet, dass sie wieder im Iran lebt. Doch genau weiß sie es nicht. Die Autorin will bald erneut nach Afghanistan reisen, um sie zu suchen. Jeder Tag, an dem die Bomben auf das Land gefallen sind, hat die Situation in den Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern verschlechtert. Viele Familien, vor allem Frauen und Kinder, werden den Winter nicht überleben, wenn nicht bald Frieden einkehrt: "Das Wichtigste ist ein sofortiger Waffenstillstand, keine Bomben mehr, keine Panzer mehr und Entwaffnung der Zivilbevölkerung. Dann kommen Ernährung und Gesundheitsversorgung. Voraussetzung für Ruhe und Ordnung ist, dass die Menschen zu essen haben."
Vor allem Bildung müsse in dem Land, das durch den Krieg und die Herrschaft der Taliban um Jahrzehnte in der Entwicklung zurückgefallen ist, nun eine wichtige Rolle spielen. Über 80 Prozent der Männer und über 95 Prozent der Frauen sind Analphabeten. Siba Shakib betont: "Es muss Kindergärten, Schulen und Alphabetisierungskurse für Erwachsene geben, außerdem müssen die Menschen psychologisch betreut werden, um zu lernen, mit dem Jahrzehnte langen Trauma von Krieg und Unterdrückung umzugehen. Es gibt viele Frauen in Afghanistan, die sich in Depression und Apathie geflüchtet haben, weil sie es sonst nicht mehr ertragen hätten."
Trotzdem ist sich Shakib sicher, dass die Frauen für ihre Rechte kämpfen werden: "Sie werden sich mit viel Risikobereitschaft und trotz aller Gefahren organisieren. Schon jetzt gibt es in Afghanistan viele Frauenorganisationen, die ganz konkrete Projekte wie Unterricht oder Verteilung von Essen in Angriff nehmen. Afghanistans Frauen werden es nicht noch eine weitere Dekade ertragen wollen, eingesperrt zu sein, Hunger zu leiden und ihre Kinder sterben zu sehen."
Die Filmemacherin ist davon überzeugt, dass Afghanistan im Innersten durch seine Frauen zusammengehalten wurde: "Frauen sind oft viel lebensfähiger als die Männer, weil sie gelernt haben, in einer restriktiven Lebenslage zu leben. Männer müssen in diesen Ländern vor allem bestimmen, behaupten und schießen können. Frauen mussten das Leben für sich und ihre Familie organisieren." Die Stärke, die diese Frauen mitbringen, ist jedoch nicht unbegrenzt. Auch Shirin-Gol unternimmt am Ende des Buches einen Selbstmordversuch, weil sie nicht mehr weiter weiß.
Trotz all dieser schrecklichen Ereignissen ist "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen" ein sehr poetisches Buch. Siba Shakib hat versucht, "die Eigenheiten, den Rhythmus und den Klang der Sprache ins Deutsche zu übertragen." Wie sie erklärt, ist es "sehr orientalisch, dass man über Worte philosophiert und mit der Sprache spielt." Die Wortschöpfungen wie "Opium-Morad", die den opiumkranken Ehemann beschreiben, oder "Muttermalschwester", sind nicht immer ganz geglückt und wirken auf westliche Leser etwas fremd. Dennoch gelingt es der Autorin zu zeigen, in welch großartigen Erzähltraditionen sich die afghanische Kultur bewegt. Nicht zuletzt macht Siba Shakib deutlich, wie wichtig es ist, Afghanistan und seinen Menschen zu helfen - jenseits aller weltpolitischen oder ökonomischen Überlegungen.
Siba Shakib: "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen - Die Geschichte der Shirin-Gol" (C. Bertelsmann Verlag 2001, 318 Seiten, 22.50 Euro (44 Mark))