Skandal-Autor Tom Kummer Ein Erfinder gibt nicht auf
Sein Lehrer muss es geahnt haben. Er verwarnte seinen Problemschüler schon vor Jahrzehnten mit den Worten: "Nur wenn du dich auf dich selbst besinnst, wirst du mit deiner eigenen Stimme sprechen und die Wahrheit so sagen können, wie du sie kennst, und nicht ständig nach dem Beifall des Publikums schielen."
Doch Tom Kummer wollte mehr vom Leben als die schnöde Wahrheit. Er wollte bekannt, bedeutend, bewundert sein. "Eine Stimme haben", etwas schaffen, das groß war. Groß und cool. Er wollte das ganz dicke "Ding" drehen. In seinem Fall hieß das: Raus aus dem ärmlichen Elternhaus in einem Berner Arbeiterviertel, raus aus der Enge seiner Schweizer Heimat, rein in eine glamouröse Welt, in der es Menschen gab, die "unvorstellbar coole Sachen machten".
"Ich glaubte immer noch an Liebe, Leidenschaft und an das MEHR im Leben, das man sich einfach holen musste. Egal mit welchen Mitteln, egal mit welchen Angebereien." So formuliert der ehemalige Star-Interviewer und selbsternannte "Borderline"-Journalist Tom Kummer, Jahrgang 1963, in seinen eben beim Blumenbar-Verlag erschienen Memoiren "Blow Up" sein Lebens- und Arbeitskonzept.
Zur Erinnerung: Tom Kummer war mal der Mann, der so nah an die Stars heranzukommen schien, wie kein anderer Journalist. Er sprach mit Courtney Love über Genitalien, mit Mike Tyson über Nietzsche, mit Charles Bronson über Gartenanbau, und Sharon Stone ließ ihn gar zwischen ihre Beine schauen. Tom Kummers Interviews waren definitiv hot. Unterhaltsam, witzig, gut geschrieben. Sie "poppten", wie Kummer das nennt. Das Problem war: Sie waren einfach zu schön, um wahr zu sein.
Warum sie trotzdem veröffentlicht wurden, warum besonders das "SZ-Magazin", früher aber auch SPIEGEL, "Stern" oder "Tempo" dankbare Abnehmer der schrägen Kummer-Stories waren, warum sich lange kaum jemand die Mühe machte, nachzuforschen, was eigentlich dran war an den irren, glamourösen Reportagen und Interviews des Schweizers, darauf findet sich auch rückblickend keine befriedigende Antwort.
Vom Starjournalist zum Fälscher
Fest steht, dass Kummer für einen der größten Medienskandale der Bundesrepublik sorgte, als am 15. Mai 2000 bekannt wurde, dass seine Aufsehen erregenden Interviews teilweise gefälscht waren. Der "Fall Kummer" führte zur Entlassung der damaligen "SZ-Magazin"-Chefredakteure Ulf Poschard und Christian Kämmerling, unter deren Ägide die meisten der fragwürdigen Stücke publiziert worden waren. Die "SZ" versuchte, ihre redaktionellen Versäumnisse mit einer groß angelegten Chronik der Ereignisse auszubügeln, doch die bange Frage blieb: War die Causa Kummer ein Einzelfall oder ein Symptom für eine allgemeine Entwicklung weg vom soliden, faktenbasierten Nachrichtenjournalismus hin zu einem subjektiven Popjournalismus, der die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit gefährlich verschwimmen ließ?
Tom Kummer verschwand nach seiner Entlarvung als "Kleinkrimineller", wie ihn ehemalige Kollegen damals entrüstet titulierten, in der Versenkung. 2005 scheiterte ein Comebackversuch, als herauskam, dass er der "Berliner Zeitung" eine bereits mehrfach veröffentlichte, sechs Jahre alte Reportage als neu verkauft hatte. Kummer hatte es nicht einmal für nötig befunden, das Alter seiner Protagonisten entsprechend zu aktualisieren. Zur Mitarbeit an der "Tempo"-Jubiläumsausgabe, die im Dezember 2006 erschien, wurde er zwar zuerst eingeladen, doch nach mehrheitlichem Beschluss der ehemaligen Kollegen wieder ausgeladen.
Nun also "Blow Up". Der Titel ist mit Bedacht gewählt. Er zitiert den gleichnamigen Sechziger-Jahre-Kultfilm von Michelangelo Antonioni. Darin geht es um die Frage, was Realität ist und was Einbildung. Die Fotografie einer Szene im Park enthüllt, entsprechend vergrößert, eine ganz andere Realität als die ursprünglich sichtbare.
Die wahre Lüge
Das entspricht ziemlich genau dem, was Kummer wollte: Er habe keine Verantwortung gefühlt, "die Realität so wichtig zu nehmen", schreibt er. "Sich in das Unbedeutende hineinfressen und es wunderbar aufblasen", das sei das Konzept von "Tempo" gewesen - und auch seins. Es finden sich viele Sätze wie diese in dem Buch: "Journalistische Begriffe wie Wirklichkeit oder Wahrheit galten für mich als Mythos." Es sei ihm, ganz im Sinne von Jean-Francois Lyotard, um die "Neudefinition von Realität" gegangen, um "Realität als Show". Das gewünschte Ziel: "eine wahre Lüge".
Der ehemalige "Tempo"-Chef Markus Peichl sagte nach dem Auffliegen Kummers in einem Interview in der "Zeit": "Kummer ist ein großes schreiberisches Talent mit großen persönlichen Problemen und großen charakterlichen Defiziten. Er ist kein Borderline-Journalist, sondern eine Borderline-Personality." Kummers Buch legt nahe, dass diese Einschätzung stimmt.
Was Kummer mit "Blow Up" abgeliefert hat, ist keine Lebensbeichte. Es ist auch keine Entschuldigung. Es ist das zum Drehbuch stilisierte Selbstzeugnis eines Mannes, der komplett die Bodenhaftung verloren hat. Der Text erzählt von seiner langweiligen Jugend in der Schweiz, seiner missglückten Laufbahn als Tennisprofi, seiner Zeit als Szenegänger in Berlin und schließlich vom Aufstieg und Fall des Starreporters.
Der kleine, unbedeutende Bruder von Hunter S. Thompson
Man sieht Kummer förmlich vor sich, wie er beim Schreiben davon geträumt hat, dass sein Leben in Hollywood verfilmt wird. Die Hauptrolle würde Johnny Depp übernehmen. Das legen gleich die ersten Sätze seines Buches nahe: "Eigentlich sehe ich wie ein ganz netter Typ aus. An guten Tagen vielleicht wie Johnny Depp". Der Rest des Films würde dann so ähnlich sein wie Terry Gilliams' "Fear and Loathing in Las Vegas". Auch das scheint im um sich selbst kreisenden Kummer-Kosmos nicht zu hoch gegriffen, denn der Schöpfer der Romanvorlage von "Fear and Loathing" war der berühmte Gonzo-Journalist Hunter S. Thompson Kummers großes Vorbild.
Die Realität sieht freilich anders aus: Kummer ist nicht der große kalifornische Held, der seinen "Jungs" in Deutschland nun endlich zeigt, was Coolsein wirklich bedeutet, sondern eine tragische Ikarusfigur, die außer Kontrolle geraten ist. Sogar als längst alles aufgeflogen ist und Kummer ganz unten angekommen ist, offenbart sich die eklatante Fehleinschätzung seiner eigenen Bedeutung: "Vielleicht würden sogar die deutsch-schweizerischen Beziehungen darunter leiden", fragt sich der Entlarvte, als er nach Deutschland fährt, um sich zu stellen. Ironisch ist das nicht gemeint.
Der erste Schritt in Richtung goldener Schuss
Kummer berauscht sich gerne an Drogen-Metaphern: Sein Interview mit Pamela Anderson sei seine "Einstiegsdroge zum Star-Interview" gewesen. "Mein erster Schritt Richtung goldener Schuss". Die Leser sind "total angefixt", die Redaktion des "SZ-Magazins" "total high".
Der Entzug war allerdings kalt. Der 15. Mai sei ihr persönliches 9/11 gewesen, habe seine Frau Nina, mit der und den zwei gemeinsamen Kindern er ein Apartment in einem wenig glamourösen Teil von Los Angeles bewohnt, einmal gesagt. Und: "Mein Selbstbild ist total gestört".
Heute ist Tom Kummer Paddle-Tennistrainer in einem Prominenten-Club am Strand von Santa Monica. Seine Kunden halten ihn für einen Brasilianer. Er ist stolz darauf, wenn Stars wie Gwyneth Paltrow ihm zuwinken. Er gibt einem der mächtigsten Agenten von Hollywood Stunden. In gewisser Weise ist er jetzt endlich- auf Tuchfühlung mit den Großen dieser Welt. Als Tennistrainer, wie gesagt.
Tom Kummer: "Blow Up", Blumenbar Verlag. 272 Seiten, 18,90 Euro