Bulimie-Roman Ein Frauenkörper als Staatsgrenze

Die Krankheit ist ihr Herr, das Essen ihre Religion: Anna ist Bulimikerin und die Erzählerin von Sofi Oksanens Debütroman "Stalins Kühe", der nun in deutscher Übersetzung erscheint - eine Erinnerungs- und Bekenntnisorgie auf 500 Seiten.
Die finnische Autorin Sofi Oksanen: Gelungene Romanform für das Thema Bulimie

Die finnische Autorin Sofi Oksanen: Gelungene Romanform für das Thema Bulimie

Foto: Toni Härkönen

Annas Orgien beginnen mit Eiscreme. Denn Eiscreme lässt alles rutschen. Schmerzfrei, lautlos und ohne Gestank lässt die Eiscreme alles aus Annas Körper flutschen, was sie noch kurz zuvor in sich hineingestopft hat. Das Brot, auf dem die Butter schmilzt. Das Gebäck. Den Kuchen. Den ganzen Inhalt des Einkaufswagens, der aussah, als habe eine Großfamilie für das Wochenende eingekauft.

Anna ist Bulimikerin, sie sagt: "Meine einzige Kirche ist das Essen." Die Krankheit ist Annas Herr, und Annas Bekenntnis zu dieser Krankheit klingt wie Treuegelübde und Beichte zugleich: "Ich werde auch das Essen erbrechen, das du kochst, und wenn du es noch so sehr mit dem Herzen zubereitet hättest und auch wenn wir eine Woche lang nichts anderes zu essen hätten. Ich werde bestimmt auch deine Portion aufessen, wenn du in die andere Richtung schaust." Und wenn andere junge Frauen sich mit ihren Liebhabern eine gemeinsame Familienzukunft erträumen, droht Anna den ihrigen: "Ich werde die Schokolade meiner Kinder aufessen und ihnen leere Pralinenschachteln zu Weihnachten schenken, weil sowieso niemand es wagen wird, darüber eine Bemerkung zu machen."

In Estland ist Anna eine Fremde und in Finnland erst recht

Anna lebt in Finnland. Aber ihre Mutter ist Estin, und Annas Heimat ist das Estland ihrer Verwandtenbesuche. Das Haus der Großmutter. Die Cafés und Restaurants, die sie dort besuchen. Und die Läden, in denen sich die kleine Anna die teuersten Hüte und Strümpfe kaufen kann, von dem Geld, das sie mit den Waren verdienen, die sie bei jedem der Besuche aus dem Westen in das Sowjetland geschmuggelt haben. Der Preis dafür ist hoch. In Estland ist Anna eine Fremde. Und in Finnland erst recht. Dort isoliert sich die Mutter, vermutet in jedem Esten einen Spitzel und in jedem Finnen jemanden, der sie nur für eine russische Hure hält. Und so wächst Anna in dem Glauben auf, nicht über ihre Herkunft, ihre Familie, ihre Identität sprechen zu können. Sie erfindet Onkel und Tanten in der finnischen Provinz. Und schluckt alles andere hinunter.

Aus Anna, dem Kind, dessen Leben von Grenzen bestimmt wurde, wird eine Frau, deren Leben von Grenzen bestimmt wird: "Die Zentimeter eines Frauenkörpers sind ebenso wichtig wie die Staatsgrenzen. Genau definiert und jede Veränderung gibt eine Schlagzeile." Das Auskotzen schließlich ist vielleicht eine naheliegende Metapher, aber durch die perfekte Form des Romans wird sie doch wieder interessant.

Der Roman ist Erinnerungs- und Bekenntnisorgie, über fast 500 Seiten bricht alles aus der Erzählerin heraus. Wie seine Protagonistin kennt der Roman "Stalins Kühe" kein Maß. Die gelungene Form ist kein Wunder, denn geschrieben hat ihn Sofi Oksanen, 35, eine der besten Schriftstellerinnen Finnlands und Schöpferin des Bestsellers "Fegefeuer". Oksanen selbst ist die Tochter einer estnischen Mutter, wusste selbst mit dieser Herkunft nicht richtig umzugehen, bis eine Dozentin in einem Dramaturgiekurs sie ermutigte, das Thema zu ergründen statt wegzuschieben. "Stalins Kühe" ist das Ergebnis dieses Prozesses und zugleich Oksanens erster Roman - der nun also endlich in deutscher Übersetzung erscheint.

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