SS-Roman "Die Wohlgesinnten" Der Scherge in uns
"Museen sind gut und nötig", sagt Claude Lanzmann, "aber sie sind Orte des Toten. Sie zeigen totes Wissen." Mit "Shoah" wollte der Dokumentarfilmer 1985 dem "Unerinnerbaren" Ausdruck verleihen, Aussagen von Überlebenden gegen das Vergessen setzen. Die Zeitzeugen aber sterben, und mit ihnen die Erinnerung. Über zwanzig Jahre später finden sich Informationen über den Zweiten Weltkrieg oft nur noch in Geschichtsbüchern. Betonierte oder stählerne Mahnmale haben politischen Symbolwert, lassen ihre Betrachter jedoch kalt, weil sie keinen emotionalen Bezug zur Geschichte vermitteln.
In diese Phase des "musealen Wahnsinns" (Lanzmann) platzt Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten". Das literarische Monumentalwerk wurde im Vorjahr in Frankreich sofort zum Bestseller und lässt auch hier zu Lande bereits vor dem Erscheinen die Gemüter wallen und die Gedanken toben.
Denn der Autor litauisch-jüdischen Hintergrunds legt eine seltene und besonders unbequeme Perspektive vor: die Gedanken- und Gefühlswelt eines Täters. Wenn bislang überhaupt jemand über die Zeit des Nationalsozialismus autobiographisch berichtet hatte, waren es überwiegend Opfer. Einige Nazi-Täter begingen Selbstmord oder wurden hingerichtet, die meisten aber tauchten unter oder hüllten sich in Schweigen. Zwar schilderten Männer wie Adolf Eichmann den bürokratischen Ablauf ihres Vernichtungsmachwerks detailgenau. Sie sprachen aber nicht über das, was in ihnen vorging.
Allein aus diesem Grund musste Littell seinen Protagonisten erfinden - und er eroberte sich damit die literarische Freiheit, Unaussprechliches auszudrücken. Sein SS-Obersturmbannführer Max Aue ist ein untergetauchter Kriegsverbrecher, der sich nach 1945 eine neue, bürgerliche Existenz in Frankreich aufgebaut hat. In Ich-Form erzählt er von seiner Karriere im NS-System, von seiner Beteiligung am Morden in der Ukraine, dem Kaukasus und in Auschwitz, vom Krieg und vom Untergang "des Reichs".
Er nimmt den Leser wie einen Vertrauten an die Hand, ja macht ihn fast zum Komplizen, führt ihn an den Abgrund. Aue ist eine Phantasiefigur, aber sie bewegt sich auf fast 1400 Seiten über präzise recherchiertes, historisches Terrain. Die Orte, die meisten der genannten hohen Nazis, die minutiös geschilderten Verbrechen und administrativen Vorgehensweisen hat es wahrhaftig gegeben. Aue verkehrt mit Eichmann und dessen Gehilfen Dieter Wisliceny, er plaudert mit Speer und Himmler, begegnet Ernst Jünger und Hans Frank.
Littell hat aus Fiktion und Fakt ein faszinierendes, nicht aber voyeuristisches Bild von Krieg und Zerstörung geschaffen. Er bringt historische, politische, philosophische und psychologische Ebenen in einen Kontext: Was ist der Mensch und wie wird er zum Täter? Dass Aue keine reale Person ist, und ob wir es hier mit einem historischen Roman oder mit einem romanhaften Geschichtsbuch oder keinem von beiden zu tun haben, spielt keine Rolle: Entscheidend ist, welche Reaktionen dieses vielschichtige, musikalisch komponierte (übrigens auch hervorragend übersetzte und lektorierte) Werk beim Leser hervorruft: Zustimmung und Abwehr sind gleichermaßen zu erwarten. Denn die schier endlos wirkende Lektüre zieht in einen Bann, sie verstört, lässt weinen, wüten und manchmal sogar hilflos lachen. Littell oktroyiert durch seine Figur des Max Aue seinen Lesern unerbittlich die Frage nach der moralischen Verantwortung und sagt ganz kühl, klappt das Buch doch einfach zu, wenn euch das nicht passt.
Die Projektionsfläche Aue ist ein eiskalter Mörder, ein unerträglicher Narzisst, hypochondrisch und obszön. Dieser Widerling watet durch Blut, Hirnmasse, Fäkalien und Sperma, hemmungslos und ohne Scham - weder beim Morden, noch bei seinen sexuellen Ausschweifungen mit Männern oder der eigenen Schwester. Er ist ein Mann voller Widersprüche: kultiviert und geistreich, barbarisch und archaisch, grotesk und tragisch. In diesem Nazi-Henker steckt ein halber Franzose, und obwohl ihm das weibliche Geschlecht fremd ist, wäre er lieber eine Frau.
Wahnsinnig und vernünftig, Herrenmensch und unbeherrscht
Fassungslos verfolgt man, wie er dem SS-Mann an der Grube das kleine jüdische Mädchen übergibt: "'Seien sie lieb zu ihr', sagte ich völlig idiotisch". Dieser Mann ist wahnsinnig und vernünftig, ein Herrenmensch und unbeherrscht - er tötet seine Mutter, beißt "dem Führer" im Bunker in die Knollennase, scheißt sich die Seele aus dem Leib und erschlägt am Schluss noch seinen Freund und Förderer. Wir begegnen all diesen Aues und auch jenem, der mal nüchtern, mal leidenschaftlich über die ungeheuerlichen Vorgänge, über die Nazis und ihr perfides System von Komplizenschaft und über sich selbst kritisch reflektiert. Das ist dann der Littell in Aue, er kommentiert das Drama, sucht nach Antworten, deckt die Lügen und Mythenbildungen der Täter auf.
Littell entlastet seine Leser nicht durch Eindeutigkeit, er konfrontiert sie vielmehr mit jenen Ambivalenzen, die das Leben zeichnen und die insbesondere dann entstehen, wenn man sich mit Tätern persönlich auseinandersetzt. Der 41-jährige Autor, der in aktuellen Krisengebieten gearbeitet und humanitäre Katastrophen erlebt hat, sagt: "Die Welt hat sich mir durch den Krieg gezeigt". Littell relativiert die Nazi-Vernichtungspolitik nicht und setzt sie schon gar nicht mit anderen Genoziden gleich. Es ist aber spürbar, dass er die Vergangenheit in die Gegenwart holen will, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Krieg, Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverbrechen gehen euch alle an, so die Botschaft. "Die wirkliche Gefahr - vor allem in unsicheren Zeiten - sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr", sagt Aue.
Littells Thema ist das, was der israelische Psychologe Dan Bar-On als "Die Anderen in uns" bezeichnet hat: die Anteile verschiedener Identitäten, die sich in jedem Menschen befinden. Die Nazis wollten mit ihren wahnwitzigen Wertvorstellungen Eindeutigkeit, sie konnten die Vielfalt nicht integrieren und spalteten das vermeintlich Gefährliche ab. Deshalb lässt Littell Aues Schwester sagen: "Indem wir die Juden töteten... wollten wir uns selber töten, den Juden in uns töten, töten, was in uns der Vorstellung glich, die wir uns vom Juden machen... Denn wir haben nie begriffen, dass alle Eigenschaften, die wir den Juden zuschrieben - Gemeinheit, Schwachheit, Geiz, Gier, Herrschsucht und Bösartigkeit -, zutiefst deutsche Eigenschaften sind..."
Weil uns Littell eben dieses "Gewicht der Vergangenheit, den Schmerz des Lebens" vergegenwärtigt und uns an die verborgenen Traumata erinnert, die die vom Krieg betroffene Generation in Europa an ihre Nachkommen weitergegeben hat, ist sein Buch so aufwühlend - und so lesenswert.
Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten", Berlin Verlag, 36 Euro