Stephen Kings neuer Krimi »Billy Summers« Wenn ein Auftragsmörder für das gute Amerika steht

Stephen King (Archivbild von einem TV-Termin): Der Killer schreibt
Foto: Lou Rocco / Walt Disney Television via Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Neben Gruselclowns, Spukhäusern und Untoten jeglicher Couleur gehören auch Schriftsteller zu den Konstanten im Repertoire von Stephen King. In »Sie« wird ein Erfolgsautor zur Geisel eines weiblichen Fans, in »Stark – The Dark Half« entwickelt das Pseudonym eines Schriftstellers ein blutiges Eigenleben, und der durch die unter King-Anhängern umstrittene Verfilmung von Stanley Kubrick mit Hauptdarsteller Jack Nicholson unsterblich gewordene Jack Torrance hat in »Shining« die wohl folgenreichste Schreibblockade in der Literatur- und Filmgeschichte.
Auch Billy Summers, der Antiheld von Kings gleichnamigem neuem Roman, versucht sich als Schriftsteller. Dabei dient das Schreiben zunächst nur als Mittel zum Zweck, denn Billys eigentliche Profession ist der Auftragsmord. Billy ist ein Killer – aber einer von den Guten, eine Kunstfigur, wie es sie nur in Büchern und im Kino gibt. Einer, der nur solche Menschen erschießt, die es seiner Meinung nach aufgrund ihrer Verfehlungen verdient haben, einer, der dennoch nach der Tat ein hinreichend schlechtes Gewissen hat, einer, der in seiner Kindheit und später als junger Soldat im Irak Schreckliches durchmachen musste, was seine zweifelhafte Berufswahl zumindest in der Logik des Romans entschuldigt.
Billys aktueller Auftrag ist mit zwei Millionen Dollar ausgesprochen – und verdächtig – gut bezahlt, und es wird sein letzter sein: Er soll einen weiteren Widerling erschießen, einen Frauenschläger und Mörder. Der sitzt zurzeit in Los Angeles im Gefängnis, wird aber, ob in ein paar Wochen oder Monaten, weiß niemand so genau, in Red Bluff, einer Kleinstadt in den Südstaaten, vor Gericht gestellt werden. Nur dass er auf den Stufen zum Gerichtssaal sterben soll, durch eine aus Hunderten von Metern Entfernung abgefeuerte Kugel.
Diesmal treibt der kreative Akt nicht in den Wahn
Für den Scharfschützen Summers stellt die Distanz kein Problem dar – anders als die Wartezeit davor. Deshalb gibt er sich als Schriftsteller aus, der an seinem ersten Roman arbeitet und täglich in das Büro mit dem freien Blick auf das Gerichtsgebäude kommt. Der so entstehende Roman im Roman erzählt Summers' Geschichte und ermöglicht es King, »Billy Summers« auch zu einer Liebeserklärung an die Macht der Literatur werden zu lassen: »Die Geschichte, die er schreibt, hat sein Leben in Besitz genommen, weil es vorläufig das einzige Leben ist, das er hat, aber das ist in Ordnung so.« Anders als frühere King-Figuren treibt der kreative Akt Summers nicht in den Wahnsinn, sondern lässt ihn zu sich selbst finden. Joan Didions berühmter Satz »Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben«, selten fühlte er sich wahrer an als hier.
Der Beginn von »Billy Summers« ist klassischer Stephen King, allerdings ohne Gespenster, Vampire oder Monster. Oder besser gesagt: Die wahren Monster, stellt sich später heraus, sind Menschen. Doch bevor Billy zum Showdown auf eine dieser menschlichen Bestien trifft, lernt der traumatisierte Ex-Soldat und Killer zunächst kennen, wozu Menschen auch fähig sind: Solidarität, Güte, Freundlichkeit. Mehrere Monate lebt Billy in Red Bluff, wartet auf den Moment, für den er bezahlt wird – und wird Teil der Community. Spielt mit den Kids der Nachbarn, mäht den Rasen, lässt sich auf einen One-Night-Stand ein.
Stephen King evoziert ein Amerika der Anständigen, der Aufrechten, und der Roman – er entstand ab Juni 2019 – ist auch als Gegenentwurf gegen das Amerika eines Donald Trump zu lesen, gegen die Korruption, die Vorurteile, den Hass. Man kann das altmodisch nennen oder naiv, aber vor allem ist es: hoffnungsvoll. Es ist schon fast ironisch, dass kaum ein Autor so konsequent und nachhaltig vom Glauben an das Gute im Menschen erzählt wie Stephen King, der Urheber einiger der abgründigsten Horrorromane unserer Zeit.
Lustvolles Biegen der Genrekonventionen
Doch irgendwann ist es vorbei mit der Vorstadtidylle: Der Tag kommt, an dem Summers seinen Auftrag ausführen muss. Und aus »Billy Summers« endgültig ein Krimi wird. Denn Summers' Auftraggeber hatten nie vor, ihn zu bezahlen, was er ahnte: »Billy (…) denkt an alle Filme über Räuber, die einen letzten großen Coup planen. Wenn Noir ein Genre ist, dann ist ›Der letzte Coup‹ ein Subgenre. In derartigen Filmen geht der letzte Coup immer daneben.«
Natürlich wird der Killer, der Genrekonvention – die King ansonsten lustvoll so lange biegt, bis sie fast bricht – folgend, zunächst selbst zum Gejagten, um am Ende auf einen Rachefeldzug zu gehen. Doch bevor es so weit ist, passiert etwas ganz anderes, etwas völlig Unerwartetes, das seine Pläne torpediert und verändert. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden, nur dass der Roman sich zu einem Roadtrip entwickelt, der Billy bis nach Colorado führen wird, in eine Berghütte mit Blick auf ein abgebranntes Hotel. Stephen-King-Fans wissen sofort, welches gemeint ist.
Bis auf diese wenigen Reminiszenzen an »Shining« verzichtet King auf Übernatürliches in seinem Roman. Es ist sein bester seit sieben Jahren, seit »Mr. Mercedes«. Auch das war ein Krimi.