
Stephen Kings "Anschlag": Was wäre, wenn...?
Stephen Kings "Der Anschlag" Die Zeit, das alte Monster
Sie klingt natürlich hanebüchen, die Prämisse des neuen Romans von Stephen King: Was wäre, wenn man in der Zeit zurückreisen könnte, um die Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy zu verhindern? Fragen, die unmittelbar dort anschließen, sind schnell zur Hand: Wäre die Welt ohne Lee Harvey Oswalds Attentat am 22. November 1963 in Dallas eine bessere? Wäre der Vietnamkrieg nicht eskaliert, wenn Kennedy weitergelebt hätte? Wäre der politisch-moralische Verfall, der die USA nach Nixon und der Watergate-Affäre in den Siebzigern beutelte, aufzuhalten gewesen? Und was ist eigentlich mit dem Schmetterlingseffekt und anderen physikalischen Nebenwirkungen, vor denen Wissenschaftler warnen, sollten Zeitreisen tatsächlich möglich sein?
Zumindest Kings Antwort auf diese letzte Frage ist einfach: "The past is obdurate, it doesn't want to change", stellt sein Romanheld Jake Epping im Verlauf seines politisch brisanten Abenteuers immer wieder fest: Die Zeit ist halsstarrig, sie will sich nicht verändern und schon gar nicht verändert werden. Also wehrt sie sich nach Kräften gegen den Eingriff aus der Zukunft.
Die Zeit als Bösewicht. Was für eine Vorgabe für den heute 64-jährigen King, um daraus das Opus magnum seiner mehr als 40 Romane umfassenden Karriere zu entwerfen. Der Horror aus "Carrie" und "The Shining", mit dem King in den Siebzigern seinen Ruhm begründete, war neben Blut, Thrill und Monstrositäten immer auch der Horror, der sich aus dem beschaulichen Alltag plötzlich Bahn bricht, der nicht von tollwütigen Hunden, Vampiren, bösen Clowns oder gar Außerirdischen an uns herangetragen wird, sondern in uns selbst schlummert und auf die richtige Gelegenheit wartet, um sich zu zeigen - wie eine tote Fliege, die plötzlich in der Schüssel mit leckeren Frühstücksflocken schwimmt. "Der Anschlag" nimmt sich noch stärker als frühere Werke der Abgründe an, aus denen der Mensch das Böse schöpft, das die Welt zu einem Reich der Angst macht. Kings Reich.
Zeit für die gute Seele
Doch natürlich braucht es, um all das zu zeigen, erst einmal eine gute Seele. Jake Epping ist ein 35 Jahre alter Erwachsenenlehrer aus dem US-Bundesstaat Maine, der nach einer gescheiterten Ehe mit einer Alkoholikerin den Sinn seines Lebens aus den Augen verloren hat. Als ihm einer seiner Englischschüler, ein geistig behinderter Hausmeister, einen Aufsatz vorlegt, der von den brutalen Ereignissen berichtet, die zum Tod seiner Mutter und seiner Geschwister durch einen gewalttätigen Übergriff seines Vaters führten, ist Jake berührt. Und wie es der Zufall will, hat Jakes Freund, der alte Al Templeton, hinten in der Speisekammer seines Schnellrestaurant-Trailers, eine magische Ecke, die ein Tor in die Vergangenheit öffnet, genauer gesagt ins Jahr 1958, dem 9. September um 11.58 Uhr mittags.
Templeton überzeugt Jake davon, dass dieses Portal, durch das er sich selbst mit frischem, billigen Burgerfleisch aus den Fifties versorgt, die einmalige Chance darstelle, die Kennedy-Ermordung zu stoppen. Man habe ja fünf Jahre Zeit, um Oswald ausfindig zu machen, zu überprüfen, ob er tatsächlich allein gehandelt habe - und ihn dann auszuschalten. Welt gerettet? Vielleicht. Er selbst sei aber zu alt, es brauche einen jungen Mann, um diese epochale, alles verändernde Aufgabe zu meistern. Nach anfänglicher Skepsis willigt Jake ein, zunächst einen Test zu machen: Wenn er das Familienmassaker, das der Vater seines Schülers Ende der fünfziger Jahre angerichtet hat, mit seinem Wissen aus der Zukunft verhindern könne, und sich dadurch das Schicksal des armen Hausmeisters zum Guten wende, dann würde er sich um Oswald und das Schicksal der Nation kümmern.
Zeit für Selbstzitate
Dieser Test nimmt viel Raum im ersten Akt des in der deutschen Übersetzung rund tausend Seiten starken Romans ein. Zu viel, könnte man meinen, doch die erste Zeitreise Jakes dient King dazu, die Motivation seines Helden plausibel zu machen und gleichzeitig den Leser mit den Gesetzmäßigkeiten seiner Erzählkonstruktion vertraut zu machen. Ohne diese etwas ermüdende Exposition wäre es unmöglich, eine Geschichte wie diese mit der nötigen Glaubhaftigkeit zu erzählen. Der Mix aus Historienroman, Zeitreisephantastik und Pulp Fiction, der hier mit viel Sinn für zeitgeistige Vergangenheitsseligkeit zusammengebraut wird, droht ständig, ungenießbar zu werden. Es ist der großen, ungebrochenen Kunst Stephen Kings geschuldet, dass man ihm schon nach kurzer Lesezeit jedes Wort glaubt.
Zwischendrin nimmt sich King noch ein bisschen Zeit, sich selbst und sein Werk zu zitieren, eine Angewohnheit, die nach Kings schwerem Verkehrsunfall im Jahre 1999 zu einer Art Marotte wurde und sogar dazu führte, dass er sich selbst in einigen Romanen auftreten ließ, darunter die letzten Teile seiner "Dark Tower"-Saga. In "Der Anschlag" führt er seine Leser zurück an den Ort der schrecklichen Ereignisse seines Bestsellers "Es", die fiktive, von Misstrauen und Angst geprägte Kleinstadt Derry in Maine, laut King ein Abbild seiner eigenen Heimatstadt Bangor, wo der ehemalige Englischlehrer seit Jahrzehnten lebt.
Die Zeit schlägt zu
Ausgerechnet hier muss Jake den mörderischen Familienvater, der mit einem Hammer auf Frau und Kinder losgeht, stoppen. Ausgerechnet hier macht er zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Widerborstigkeit der Zeit, die seinen Eingriff mit Unfällen und körperlichen Attacken zu verhindern versucht. Und als Jake in der Fünfziger-Jahre-Version seines Heimatortes ankommt, berührt er einen geparkten, knallroten Plymouth Fury - Hauptdarsteller von Kings Auto-Horrormärchen "Christine". Alles hängt miteinander zusammen, lautet die Botschaft dieser kleinen Insiderwitze, die King über seine Bücher verstreut - seine Erzählungen ebenso wie die Zeitläufte und letztlich auch seine eigene Biografie.
Im zweiten Teil des Romans versucht Jake dann tatsächlich, Kennedys Ermordung zu verhindern: Er beschattet Lee Harvey Oswald, wird Zeuge, wie der mutmaßliche Attentäter seine junge russische Frau Marina misshandelt, beobachtet, wie er sich mit historisch verbürgten, dubiosen Gestalten wie dem zwielichtigen Entrepreneur George de Mohrenschildt trifft, wägt ab, zögert, quält sich mit der Entscheidung - und verliebt sich unsterblich in eine junge Frau, die er unter seiner Deckidentität in Texas kennenlernt.
Zeit für die große Liebesgeschichte
Diese Liebesgeschichte bildet den eigentlichen Hauptteil von "Der Anschlag", denn letztlich erzählt King, wie schon in seinem Roman "Love" ("Lisey's Story") vor einigen Jahren, sehr gerne Romanzen, und er wird immer besser darin, je älter er wird und je mehr er sich von plakativen Horrorschilderungen löst. Der Horror besteht hier in der häuslichen Gewalt, unter der sowohl Jakes Schüler, als auch Oswalds Frau und Jakes Geliebte zu leiden haben: Sadie wurde von ihrem Ex-Mann zum psychischen Krüppel gemacht, bis sie davonlief. Und natürlich stellt der Kerl ihr nach, bis es zur Katastrophe kommt. Das Böse keimt in der kleinsten, der intimsten Zelle, der Familie, und aus diesem Bösen entstehen monströse Dinge, bis hin zur Ermordung eines Präsidenten - diese Geschichte erzählt King in "Der Anschlag".
King gestattete sich erstmals, reale historische Begebenheiten mit größtmöglicher Akkuratesse mit seinen fiktiven Plots zu verweben. Seine Recherchen dafür waren umfangreich, wie man in den bibliografischen Angaben am Ende des Buches nachlesen kann. Vieles, was King über Oswald schreibt und teilweise mit dichterischer Freiheit dazuerfindet, erinnert an Norman Mailers halbfiktive Monumentalbiografie "Oswalds Geschichte", doch so nah wie Mailer will King an die Person und an die politischen Zwänge, Strömungen und Ängste jener Zeit gar nicht heran. Abgesehen davon, dass er als prominenter Bestsellerautor in der größten Verschwörungstheorie aller Zeiten klar Stellung bezieht, indem er Oswald letztlich zum Einzeltäter erklärt, ist sein Ansatz weniger politisch als privat. Er will uns nicht das Wesen eines möglicherweise kommunistisch motivierten, psychisch labilen Attentäters und seiner Zeit erklären, er will uns, wie immer, etwas über uns selbst, unsere Schwächen und unsere Ängste erzählen.
Zeit für ein reifes Werk
Fast 40 Jahre hatte King Zeit, seine Geschichte reifen zu lassen, denn die Idee hatte er bereits 1972, als er gerade anfing, Bücher zu schreiben. Er habe es damals "nicht hingekriegt", sagte King im Interview mit dem SPIEGEL, und das habe ihn jahrelang geärgert. Nun war die Zeit reif, war er als Schriftsteller gereift. Barack Obamas Präsidentschaft war der Auslöser, "der Optimismus, die Hoffnung und Begeisterung, als er ins Amt kam. Und gleichzeitig dieser Hass". Das, sagt King, habe ihn an Kennedy erinnert - und an die Auseinandersetzungen in seiner eigenen, streng republikanisch-konservativen Familie, als er noch ein Kind war.
Ob es Jake gelingt, das Attentat auf den Hoffnungsträger Kennedy zu verhindern, sei hier nicht verraten. Nur so viel: Es könnte ein Trugschluss sein, zu glauben, allein durch das Verhindern der reinen Tat würden sich die Dinge zum Guten wenden. Das Böse äußert sich schon viel früher, bei der ersten Ohrfeige, die ein Ehemann seiner Frau verabreicht etwa. Aber kann man das Böse dann auch bekämpfen? Diese Frage lässt King in seinem bisher ambitioniertesten Werk offen. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber wann, wie, wodurch - dabei haben wir nicht viel mitzureden.