Sterbehilfe Ein letztes Mal Avocado mit Pampelmuse

Ein Tod, so individuell wie sein Leben: Nach einem schweren Schlaganfall bittet der Pariser Kunstsammler André Bernheim seine Tochter, ihm beim Sterben zu helfen. Das Buch "Alles ist gutgegangen" ist ihr ungewöhnlicher, diskreter Bericht.
Restaurant in Paris: Lange geplantes Abschiedessen

Restaurant in Paris: Lange geplantes Abschiedessen

Foto: LOIC VENANCE/ AFP

Mag der Tod auch ein Gleichmacher sein, das Gesetz allen Lebens, das ohne Unterschied jeden trifft - das Sterben, das ihm voraus geht, ist nicht uniform, sondern individuell. Der Blickwinkel der medialen Öffentlichkeit wird dem oft nicht gerecht, verengt die Auseinandersetzung mit dem Ende des Lebens auf die üblichen Symbole: Bilder der technisierten Intensivbetreuung, des körperlichen Verfalls, austauschbar und leicht verdrängbar - was hier gezeigt wird, findet in der Parallelwelt der Heime und Krankenhäuser statt.

Auch Emmanuèle Bernheims autobiografischer Bericht "Alles ist gut gegangen" beginnt in einem Krankenhaus - und unterscheidet sich doch von anderen Auseinandersetzungen mit dem Thema Sterbehilfe. "Alles ist gutgegangen" ist die Geschichte des selbst gewählten Todes eines Individualisten. Es ist ein ungewöhnliches, diskretes Buch. Es ist die Geschichte eines Sterbens, eingebettet in zwei Restaurantbesuche.

André Bernheim, Jahrgang 1920, Pariser Kunstsammler, war, wie sich seine Tochter Emmanuèle erinnert, ein Mensch, der "fast nie zu Hause" war, ein Mensch voller Neugier: "Er wollte immer über alles Bescheid wissen. Er musste alles sehen, alles hören, alles probieren, vor allen anderen."

Im Alter von 88 Jahren erleidet Bernheim einen Schlaganfall. "Am Abend zuvor hatte er einen Film gesehen, der gerade in die Kinos gekommen war, und in einem Restaurant gegessen, das gerade neu eröffnet worden war." Nun aber kann er sich kaum noch bewegen, nur mühsam sprechen, anfangs nicht einmal mehr schlucken. Schließlich wird er in eine Reha-Klinik verlegt. Im Lauf seines Lebens hatte Bernheim eine Herzoperation, Wochen auf der Intensivstation, die Entfernung seiner Milz, eine Lungenembolie, Depressionen, eine schwere Schädelverletzung überstanden. Diesmal aber heißt es: "Die Diagnose ist nicht berauschend". Als ihn seine Tochter besucht, ist fast alles Leben aus seinem Gesicht gewichen. Mit der noch beweglichen Linken fasst er nach ihrem Arm, sieht ihr direkt ins Gesicht: "Ich möchte, dass Du mir hilfst, Schluss zu machen."

Frisch geschminkt zurück

Auf dem Heimweg läuft Emmanuèle Bernheim ziellos durch die Stadt. Nachts wälzt sie sich im Bett, nimmt schließlich ein Beruhigungsmittel. Zuletzt aber beschließt sie, ihrem Vater seinen Wunsch zu erfüllen.

Die Ausnahmesituation, in der sich die Familie fast ein ganzes Jahr lang befindet, schildert Bernheim mit großer Zurückhaltung. Über eine Freundin knüpft sie Kontakt mit einer Schweizer Sterbehilfeorganisation, legt eine Mappe an für die notwendigen Unterlagen. Bernheim wählt die Farbe Rosa. Sie erinnert ihn an eine Figur aus Quentin Tarantinos Film "Reservoir Dogs", die ihr Vater mochte: Mister Pink, gespielt von Steve Buscemi.

Immer wieder tauchen derartige, kurze Erinnerungen auf in dem Buch, das wirkt, als ob sich Bernheim auch im Moment der Niederschrift - vier Jahre nach dem Tod ihres Vaters - nur minimale Dosen der Nostalgie gestattet. Vielleicht, weil sie mehr nicht aushalten würde. Vielleicht aber auch, weil sie mehr nicht preisgeben möchte. Ihre eigenen, aufgewühlten Gefühle bekämpft sie mit dem Tranquilizer Lexomil. Als sie in Tränen auszubrechen droht, versteckt sie sich auf einer Restauranttoilette - und kehrt, frisch geschminkt, zurück an den Tisch.

Eine Szene, die als Bild für das ganze Buch taugt. Bernheim beschönigt nicht, stellt das Leiden aber auch nicht heraus. Sie hält die Balance: Skizziert das Leben ihres Vaters und stellt doch seinen Tod in den Mittelpunkt, schildert private Momente und gibt die Intimität des Vaters doch nicht der Öffentlichkeit preis, beschreibt die Komplikationen, denen die Angehörigen durch das Verbot der Sterbehilfe ausgesetzt sind, ohne ihre Situation zu verallgemeinern.

So schwer es Emmanuèle Bernheim und ihre Schwester auch fallen mag, den Wunsch ihres Vaters umzusetzen, die Frage, ob das, was sie tun, gerechtfertigt ist, stellt sich für sie nie - trotz einiger dramatischer Zwischenfälle.

Er bestellt einen Nachschlag

An seinem vorletzten Pariser Abend ist André Bernheim im Rollstuhl sitzend mit seinen Töchtern und deren Lebensgefährten in seinem Lieblingsrestaurant verabredet. Wie immer begrüßt ihn der Kellner mit einem Kuss auf die Wange. Bernheim bestellt das, was er seit Wochen geplant hatte: Einen Avocado-Salat mit Pampelmuse und Pommes. Emmanuèle Bernheim bekommt kaum etwas hinunter. Er bestellt einen Nachschlag. Und Dessert.

Ob er Angst habe, zu sterben, fragt Emmanuèle ihn. "Er schüttelt den Kopf. Eine kraftvolle Bewegung. 'Überhaupt nicht'. Und er häuft noch mehr Crème fraiche und Zucker auf seinen Teller mit Beerenobst."

Am folgenden Abend bricht André Bernheim mit einem privat organisierten Krankentransport nach Bern auf. Seine Töchter können ihn aus rechtlichen Gründen nicht begleiten. Er habe sehr gute Laune gehabt, erfahren sie später. Sie selbst verbringen den Abend mit einem Film: Emmanuèle schaut den Horror-Thriller "Saw", ihre Schwester Lars von Triers "Antichrist" - beide, "um auf andere Gedanken zu kommen."

Auch wenn der Vater sich nach dem Tod gesehnt hat, für seine Töchter ist der Abschied voller Schrecken.

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