Vielstimmige Frauenfigur "So ein dünner Penis, damit kann ich nicht arbeiten"

Autorin Akwaeke Emezi
Foto: Elizabeth WirijaAda ist nicht allein. Nie. Sie ist in Begleitung. Zumindest in ihrem Inneren. Immer. Ihre Mitbewohner haben merkwürdige Namen: Saint Vincent, ihre Brüderschwestern, Ashughara. Und sie nennen sie "die Ada". Als sei sie nur eine Version von vielen.
Wenn man es pathologisch betrachtet, stimmt das wohl: multiple Persönlichkeitsstörung - fertig. Doch Akwaeke Emezi lässt der Fallbeil-Diagnose "Krankheit" in ihrem Debütroman "Süßwasser" keinen Raum. Im Gegenteil: Die Stimmen in Ada sind ihre Retter, sie kann sich auf ihre Kraft, ihre Inspiration verlassen, auch wenn die Vormachtkämpfe nie aufhören. Sie sind feminin und maskulin, sie sind maliziös und fromm, und alle wohnen "im Marmor ihres Kopfes".
Eine kraftvolle Feier von pluralistischer Identität: "Süßwasser" ist mal wieder der Beweis, wie verblüffend und umwerfend Literatur sein kann. Nominiert für ein paar Buchpreise, zwei weitere Romane sind in der Mache, und ja, eine abgegriffene Formel, aber hier stimmt es: Emezis Ton ist eine Überraschung.
Ein Trauma weckt den Chor der Stimmen auf
"Ich habe nicht einmal den Mund dafür, diese Geschichte zu erzählen", formuliert Ada in den wenigen Kapiteln, in denen sie sich selbst zu Wort meldet, kurz, erschöpft. So übernehmen mal die Brüderschwestern, das "Wir", das wie ein griechischer Chor ihr Leben kommentiert: "Wir hätten die Angelegenheit vielleicht anders geklärt." Und vor allem Asughara, das "Bestienselbst", das Ada maliziös anstiftet, über die Stränge zu schlagen und sie vor allem auf Distanz hält. Zu allen. "Du kannst dich nicht hingeben, weil du nicht dir gehörst", teilt Asughara knapp mit. "So ist das. Tut mir leid."
Adas Geschichte, das ist die einer jungen Halb-Nigerianerin, die aufs College in die USA geschickt wird, die Linkin Park hört und sich erstmal von ihren Mitschülerinnen die Haare glätten lässt. Und die vergewaltigt wird. Ein Trauma, das den Chor an Stimmen aufweckt, der von Geburt an in ihr wohnte. Sie ist nun viele, ihre Erinnerungen in unterschiedlichen Schubladen, denn "viele Dinge sind besser als ein vollständiges Gedächtnis".
Dass diese Stimmen so glaubhaft sind, macht den großen Zauber dieses Textes aus. So bildet Emezi sprachlich präzise die kalte innere Distanz zu sich selbst ab, in der Ada gefangen ist ("Danach beobachtete die Ada mit wenig Interesse, wie er seinen Penis in ihre Scheide steckte."). Und lässt daneben wunderbar abgeklärte Momente auftauchen, die einen sofort für das "Bestienselbst" einnehmen: "Oh, fuck, dachte ich, Gefühle", kommentiert es etwa, wenn "die Ada" sich verliebt. "[I]ch zuckte zusammen, als ich spürte, wie dünn sein Penis war. 'Damit kann ich nicht arbeiten', sagte ich zu Ada."
Das Schema, mit dem Emezi hantiert, ist seit Charlotte Brontës "Jane Eyre" fest in der Literatur verankert: "die Verrückte auf dem Dachboden", die Frau als Monster. Lange die gängige Lesart von weiblichen Figuren, die nicht der wie auch immer definierten Norm entsprechen. Ganz zu schweigen vom Hysterie-Gaga, mit dem Generationen von Frauen stigmatisiert wurden.
Dieses Stigma begannen Autorinnen des 20. Jahrhunderts aufzubrechen, allen voran Toni Morrison in "Menschenkind", Margaret Atwood mit "Alias Grace", Leslie Marmon Silko in "Ceremony", aber auch schon Virginia Woolf in ihrem metamorphotischen "Orlando": Sie zeigen Frauen mit fragmentierten Identitäten, die entweder vielstimmig auf ihr erlebtes Trauma antworten, sich so ins Überleben retten oder ihre innere Vielfalt nicht als Abweichung begreifen. Sondern als bereichernd.
Welche Maske, wann - das ist eine Wahl
Akwaeke Emezi dehnt diese Wahrnehmung noch aus: Sie ruft die Kosmologie des afrikanischen Igbo-Volkes auf, deren Geister sich für "die Ada" verantwortlich fühlen, allen voran Ala, eine Python-Figur als Erdgöttin. Über die Igbo-Maskenfeiern ihrer Kindheit in Nigeria schrieb Emezi unlängst im Magazin "Dazed" : "Wenn du das Kostüm trägst, bist du der Geist."

Igbo-Maske
Foto: imago/ United Archives International/ TopfotoEs ist eine Wahl: welche Maske, wann. Und auch eine Entscheidung, mit diesen Facetten zu leben. Emezi, Jahrgang 1987, halb Igbo, halb Tamilin, aufgewachsen im Süden Nigerias, sagt von sich, dass sie erst zur Nigerianerin wurde, als sie mit 16 in Virginia auf dem College ankam: Sie wurde dazu gemacht, eine Zuschreibung. Davor, in Nigeria, sei sie wegen ihres gemischten Hintergrunds nie als zugehörig gesehen worden: Eine eindeutige Identität, die hatte sie nie.
Wohl auch deshalb klingt der Originaltitel "Freshwater" in seiner Mehrdeutigkeit weit kraftvoller als das limnologisch korrekte, aber so verdammt feminine "Süßwasser". Emezis Ada ist ein zarter wie harter, aber hoffnungsvoller Entwurf: Denn Identität erneuert sich fließend.