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Regeners neuer Roman: "Ein harter, steiniger Weg nach Berlin"

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Sven Regener über Berlin "Kreuzberg wurde von den Schwaben gerettet"

So viele Touristen - mancherorts ist Berlin heute wie Helgoland, findet Sven Regener, Sänger und Autor. Sein neues Buch "Wiener Straße" spielt im alten Westen der Stadt, Anfang der Achtziger, als nur die Freaks kommen wollten.
Zur Person
Foto: Hannelore Foerster/ Getty Images

Sven Regener wurde 1961 in Bremen geboren und zog Anfang der Achtzigerjahre nach Berlin. Mit Element Of Crime veröffentlichte er ab 1986 insgesamt 14 Alben, der Durchbruch gelang der Band 1993 mit "Weißes Papier". 2001 erschien Regeners Debütroman "Herr Lehmann", der die Erlebnisse der Kneipenbedienung Frank Lehmann im Kreuzberg der Wendezeit nachzeichnete und bis heute über 1,5 Millionen Exemplare verkaufte. Mit "Neue Vahr Süd" und "Der kleine Bruder" folgten 2004 und 2008 zwei weitere Romane, die Frank Lehmanns Vorgeschichte in den frühen Achtzigerjahren erzählten, und 2013 "Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt", dessen Verfilmung aktuell in den Kinos läuft. Sven Regener lebt mit seiner Familie in Berlin.

SPIEGEL ONLINE: Ihr neuer Roman "Wiener Straße" spielt in den frühen Achtzigerjahren in Westberlin. Was war das Besondere an dieser Zeit?

Regener: Damals änderte sich vieles an der Art, wie man sein Zusammenleben organisierte. Es begann eine andere Ebene von Wirtschaften Ende der Siebziger, so ein alternatives Milieu. Kneipen, wo man, wenn man einen Job brauchte, einfach mal eben schnell arbeiten konnte. Wie die von Erwin Kächele im Buch, wo jemand wie die Figur Chrissie auf die Idee kommen kann, Kuchen zu verkaufen, um damit vielleicht Geld wie Heu zu scheffeln.

SPIEGEL ONLINE: Große Teile des Romans spielen im Kunstmilieu. Erstaunlich, wie gegenwärtig sich diese Schilderungen lesen.

Regener: Damals ging es damit los, dass man Kunst machte, ohne Manifeste und Beipackzettel zu schreiben. Wobei man sagen muss: Nichts von dem, was man machte, hat's in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, der großen Zeit der Moderne, nicht auch schon gegeben. Neu war, dass sich die bildende Kunst nicht mehr erklärte. Jeder konnte plötzlich Künstler sein. Wenn du Kunst hast, die keine handwerklichen Fähigkeiten mehr benötigt und gleichzeitig akademische Spezialanforderungen negiert, wird es interessant. Dann sind wir bei Wolfgang Müller und seinen "Genialen Dilletanten". Die sagten: Wir müssen uns nicht rechtfertigen. Wir wollen uns nicht erklären. Das ist der Ansatz, der damals neu war und der bis heute nachwirkt.

SPIEGEL ONLINE: Zu den "Genialen Dilletanten" gab es eine große Ausstellung, auch sonst hat man den Eindruck, dass das Berlin der Siebziger-, Achtziger- und Frühneunzigerjahre einmal komplett durchmusealisiert wurde. Sind Ihre Bücher der fiktionale Nebenfluss dazu?

Regener: Nein! Bei mir geht es um konkrete Personen. H.R. Ledigt zum Beispiel steht nicht für die Kunstszene der Achtziger, er steht nur für sich selbst. Ich versuche zu ergründen, was die Leute umtreibt, wie sie sind. Insofern hoffe ich, dass meine Bücher etwas lebendiger sind als die Coffeetable-Books mit Bildern aus dieser Zeit, die man jetzt so macht. Die haben ja ihre Berechtigung, und es ist toll, sich nochmal diese alten Bilder anzugucken - aber es wirkt alles immer so weit weg durch dieses Schwarzweiß.

SPIEGEL ONLINE: Zieht diese Historisierung junge Menschen nach Berlin? Wenn ich durch die einschlägigen Stadtteile gehe, scheint ein guter Teil der Passanten aus Kopenhagen, München, New York zu kommen...

Regener: Durch Easyjet ist alles so billig geworden. Jetzt hat man eine neue Art von Tourismus, die dafür sorgt, dass in Nord-Neukölln oder am Mauerpark die Stadt am Wochenende eine ganz andere als unter der Woche ist. Es ist fast ein bisschen wie in Helgoland, wo die Touristenboote anlegen und dann zwei Stunden lang die Insel voll mit Leuten ist. Damals war es ein harter, steiniger Weg nach Berlin, deshalb kann man das nicht vergleichen.

SPIEGEL ONLINE: Nervt Sie dieser Easyjet-Tourismus?

Regener: Nein, das war jetzt ohne jede Wertung - was ist gegen Partytourismus zu sagen? Jeder Mensch ist irgendwo Tourist, also sollte man da nicht meckern.

SPIEGEL ONLINE: Heute bleiben viele ja auch ganz in der Stadt.

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Regener: Stimmt, das funktionierte damals anders. Niemand, der einen Beruf gelernt hatte, kein Handwerker ging freiwillig nach Berlin. Da gab es extra Anwerbeprogramme. Westberlin war eine sterbende Stadt.

SPIEGEL ONLINE: Wie fing man das auf?

Regener: Aufgefangen wurde das von Leuten, die weder für die Geschichte noch für die Gegenwart dieser Stadt Verständnis hatten, die das alles als Kulisse nahmen und vor dieser Kulisse einfach machten. Das wurde von vielen alteingesessenen Berlinern als Invasion, als Landnahme, als Affront genommen.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

Regener: Es gab damals in Berlin zwei Parallelwelten. Auf der einen Seite die Berliner, die sich als Alteingesessene sahen - obwohl sie teilweise selber zugereist waren - und dieses Mauerbautrauma hatten. Die waren verletzt, die waren traurig und zum Teil unmittelbar betroffen, weil da Familien auseinandergerissen wurden. Den danach Zugezogenen auf der anderen Seite war das scheißegal. Deshalb war die politische Konfrontation so hart, wenn die als Hausbesetzer auf die etablierte Politik trafen. Aber, und das ist dabei ein ganz wichtiger Punkt: Das waren ja die Leute, die da hinwollten. Die einzigen jungen Leute, die kamen, waren die Freaks.

SPIEGEL ONLINE: Die dann ja doch auch etwas aufbauten.

Regener: Kreuzberg wurde zum großen Teil von den Schwaben gerettet. Alles, was dort an Erhalt und Sanierung von alter Substanz passierte, wurde von mehreren durchgehenden Geburtsjahrgängen aus Reutlingen, Tübingen, Stuttgart gestemmt. Und trotz aller Konfrontation, trotz aller Gegensätze muss man eines den Berlinern lassen: Sie haben die anderen immer machen lassen. Am Ende kamen alle miteinander klar.

SPIEGEL ONLINE: Über dieses Laissez-faire in der Hauptstadt wird im Rest des Landes oft gespöttelt. Schafft es am Ende die Voraussetzungen für kreative Freiräume?

Regener: Klar. Es ist alles egal. Ich könnte nach diesem Interview nackt durch die Kantstraße laufen, es würde niemanden interessieren. Wegen so etwas ruft hier keiner die Polizei. Der Klassiker in meiner frühen Zeit in Westberlin war, dass die Leute im Pyjama und in Schlappen nur mit einem Parka drüber Zigaretten holen gegangen sind. Und wir reden jetzt über ganz normale Leute! Wenn man so eng aufeinander lebt, muss man schon sehr gelassen und tolerant den anderen gegenüber sein.

SPIEGEL ONLINE: Sie sind Anfang des Jahrtausends in den Prenzlauer Berg gezogen. Wie unterscheidet sich der Ost- vom Westberliner?

Regener: Ich bin schlecht mit kollektiven Identitäten.Ich glaube nicht, dass man darüber so generell reden kann. Ich fühle mich da nicht zuständig. Das ist vielleicht die richtige Frage für Soziologen, für die sind kollektive Identitäten wichtig. Wenn ich jetzt sage: Der Ostberliner, der ist so und so, dann habe ich das Gefühl, ich tue allen unrecht. Mir fallen dann immer gleich so viele Gegenbeispiele ein. Aber sprachlich gibt es Unterschiede.

SPIEGEL ONLINE: Und die wären?

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Regener, Sven

Wiener Straße: Roman

Verlag: Galiani-Berlin
Seitenzahl: 304
Für 21,60 € kaufen

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08.06.2023 14.08 Uhr

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Regener: Im Westen wird stärker berlinert als im Ostteil der Stadt. Die lassen so richtig harte Sätze raus. Es ist auch vom Klang her ein bisschen anders.

SPIEGEL ONLINE: Aber der Prenzlauer Berg würde auch genug Personal für einen Roman oder eine Szenerie bereithalten?

Regener: Es gibt viele Romane, die im Prenzlauer Berg der Achtzigerjahre spielen, zum Beispiel von André Kubiczek. Grundsätzlich können zwischen den Leuten überall interessante Sachen passieren. Der Schauplatz ist zweitrangig. Ich versuche, mit den Dingen zu arbeiten, die in dem Teil des Lebens stattfinden, der gar nicht so spektakulär ist. Aus der Tatsache, dass die Nichte des Besitzers eines Cafés den Besitzer zu überreden versucht, dass der den Laden schon tagsüber aufsperrt, damit sie dort Kaffee und Kuchen verkaufen kann, eine spannende Geschichte zu stricken, das ist die Herausforderung. Weil das der Alltag ist. Darin liegen viel Witz, viel Tragik, alles, was man für einen guten Roman braucht. Wir können nicht alle Schlachtenmaler sein.

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