
Swetlana Alexijewitsch: Die Nobelpreisträgerin in Zitaten
Literaturnobelpreis-Trägerin Alexijewitsch "In jedem Russen sitzt ein kleiner Putin"
Die Überraschung kam gegen Mittag. "Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch", meldeten die Nachrichtenagenturen.
Bitte wer? Aus welchem Land?
Alexijewitsch, 67 Jahre alt, lebt in Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland, einer kleinen Nation mit knapp zehn Millionen Einwohnern. Den Nobelpreis aber hat sie bekommen, weil sie in ihren Büchern einer sehr viel größeren Heimat nachspürt. Einem Imperium, das vor einem Vierteljahrhundert als Staat zerfiel, in den Köpfen vieler Menschen aber lebendig blieb: der Sowjetunion. Sie würde sich schon auch "als weißrussische Schriftstellerin bezeichnen. Gleichzeitig empfinde ich diese sowjetische Gemeinsamkeit", sagt Alexijewitsch.
Ihr Thema ist das Scheitern des demokratischen Umbruchs in Osteuropa. Wenn Alexijewitsch aus dem Küchenfenster ihrer Minsker Wohnung schaut, kann sie Alexander Lukaschenko zur Arbeit fahren sehen, Weißrusslands Präsident seit 21 Jahren, Spitzname "Europas letzter Diktator". Beim großen Nachbarn Russland hat Wladimir Putin Fernsehen und Parlament gleichschalten lassen. Zum Nationalfeiertag am 9. Mai flattern wieder rote Fahnen in russischen Städten.
Nadelstich gegen Putin
"Secondhand-Zeit - Leben in den Trümmern des Sozialismus" hat sie ihr zuletzt erschienenes Buch genannt. Sie hat darin Russen über ihre Gefühle nach dem Zerbrechen des Sowjetreiches befragt. "Russland hat sich von den Knien erhoben. Das ist ein gefährlicher Augenblick", sagt dort einer ihrer Interviewpartner.
Die Auszeichnung für Alexijewitsch ist auch ein Nadelstich gegen einen Mann, der vom Nobelpreiskomitee gar nicht namentlich erwähnt wurde: Wladimir Putin. Alexijewitsch - Tochter eines Weißrussen und einer Ukrainerin und geboren in der Westukraine - hat Partei ergriffen für die Maidan-Revolution ("Die Menschen wollen ein neues Leben, und sie sind darauf gefasst, darum kämpfen zu müssen"). Die Annexion der Krim dagegen hat sie als "verbrecherisch" verurteilt: "Wie konnte man nur diesen zerbrechlichen Nachkriegsfrieden zerstören?"
Für den Westen sei es schwer geworden, überhaupt mit Putin zu sprechen. Er habe sich ganz auf Machtpolitik verlegt. Den Wunsch des Westens nach einem Dialog interpretiere der Kreml-Herr als Schwäche. "Natürlich ist es richtig, den Dialog zu wollen, aber du musst wissen, mit wem du es zu tun hast", hat Alexijewitsch 2014 dem SPIEGEL gesagt. Der Westen habe vergessen, "dass die Russen eine ganz andere psychologische Verfassung haben".
"Sehr aggressive Menschen"
Russen und auch Weißrussen, so sieht es Alexijewitsch, haben sich bewusst für eine Rückkehr zum Autoritarismus entschieden. Die Widersprüche mit dem Westen würden sich auch unter anderer Führung nicht auflösen. Das zu verstehen falle Ausländern allerdings schwer. "Nur Sowjetmenschen können Sowjetmenschen verstehen", sagt sie. Und: "Ein Putin sitzt in jedem Russen".
Im Osten habe man "das Volk erst 70 Jahre betrogen und dann noch einmal 20 Jahre bestohlen". Das habe in Russland und Weißrussland "sehr aggressive Menschen hervorgebracht, die gefährlich sind für die Welt".
Unter Moskauer Falken hat das Alexijewitsch zum Hassobjekt gemacht. Sie rufe "zum Krieg gegen Russland auf", schrieb das bei Hardlinern beliebte Webportal Swobodnaja Presse im Juni. Sie hoffe wohl, das werde ihre Chancen auf den Nobelpreis erhöhen. Überhaupt sei Alexijewitsch ein "amerikanisches Projekt".
Ziemlich unterkühlt fielen nun auch die Glückwünsche des weißrussischen Außenministeriums aus. Man begrüße die Entscheidung, den Preis "unserer Landsfrau" zu verleihen. Es handele sich dabei um die "erste Auszeichnung eines Bürgers unseres souveränen Landes". Man sei optimistisch, dass weitere folgen würden. Kein Wort dagegen zu Alexijewitschs Werk.
Dabei entspricht sie dem Bild der vermeintlich vom Westen gelenkten Marionette denkbar schlecht. Klar, Weißrusslands Machthaber Lukaschenko hat sie einen "Psychopathen" genannt. Das Urteil über seine prowestlichen Widersacher fällt allerdings kaum milder aus: Die Opposition ("Kulturwissenschaftler, Träumer und Romantiker") habe weder ein Konzept noch ein Programm.
Wenn Alexijewitsch Journalisten Interviews gibt, münden ihre Aussagen oft selbst wieder in Fragen. Die wichtigste lautet: "Warum wandelt sich all unser Leiden, das Leiden unserer Großväter, unserer Urgroßväter, nicht in Freiheit?"