Bestseller-Autorin Tana French "Bei Polizeiarbeit geht es immer um Macht"

Autorin Tana French
Foto: Henning Kaiser/ dpa
Tana French wurde 1973 im US-Bundesstaat Vermont geboren, wuchs in Irland, Italien und Malawi auf und lebt seit 1990 in Dublin. Dort spielen auch ihre Romane um die fiktive Dublin Murder Squad. Gleich der erste, "Grabesgrün", wurde ein Bestseller. Inzwischen ist sie, so die "Washington Post", eine der wichtigsten aktuellen Stimmen der internationalen Krimiszene. Ihr sechstes Buch, "Gefrorener Schrei", ist gerade in Deutschland erschienen - und schon in die SPIEGEL-Bestsellerliste eingestiegen.
SPIEGEL ONLINE: Ms French, der irische Krimi-Autor John Connolly hat einmal scherzhaft gesagt, sein Heimatland sei so klein, dass nach einem Mord jeder sofort wüsste, wer der Täter ist. Ist das ein Grund dafür, dass der irische Kriminalroman erst seit knapp zehn Jahren international wahrgenommen wird?
Tana French: Es hat viel damit zu tun, dass Irland keine lange Krimi-Tradition hat. Erst mit Connollys Parker-Büchern, die seit den späten Neunzigerjahren erscheinen, ging es langsam los. Dafür haben wir hierzulande eine große Tradition von Gothic- und Horrorgeschichten, zum Beispiel Bram Stokers "Dracula". Ein wichtiger Einfluss für viele irische Krimiautoren.
SPIEGEL ONLINE: Alle Ihre Bücher spielen im selben Morddezernat in Dublin, aber jedes hat einen anderen Ich-Erzähler. Wie kamen Sie auf diese Idee?
French: Ich lese zwar gern Serien, hatte aber kein Interesse daran, selbst eine zu schreiben. Ich finde es spannender, über die großen Wendepunkte im Leben von Figuren zu erzählen. Und im Leben der meisten Menschen gibt es nicht allzu viele davon. Weder wollte ich meinen Detektiv alle paar Jahre in eine Extremsituation schicken, bis er in einer Zwangsjacke endet, noch eine Standardserie schreiben - also kam ich auf die Idee, mit jeder Geschichte den Erzähler zu wechseln.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind ausgebildete Theaterschauspielerin, entschieden sich aber fürs Schreiben. Hilft Ihnen Ihre Schauspielerfahrung dabei?
French: Unbedingt. Sie hilft beim Schreiben von Dialogen, und dass ich in der Ich-Perspektive schreibe, hat viel damit zu tun. Man erschafft eine dreidimensionale Figur, mit dem Ziel, die Leser in ihre Welt hineinzuziehen. So sehr, dass sie am Ende denken, sie sei ein guter Freund.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Autoren, die Sie als Ihre Vorbilder bezeichnen würden?
French: Das sind vor allem Autoren, die keinen allzu großen Wert auf Genre-Konventionen legen. "Mystic River" von Dennis Lehane hat mir eindrucksvoll gezeigt, dass die Vorstellung von Kriminalromanen als schlicht geschriebener, fast ausschließlich handlungsgesteuerter Genreliteratur obsolet ist. Der Roman ist stilistisch brillant, Familiensaga, Krimi und Sozialstudie zugleich. Das hat nicht mehr viel mit Agatha Christie zu tun. Ähnlich wichtig für mich war Donna Tartts "Die geheime Geschichte", auf der einen Seite große Literatur, aber eben auch eine extrem spannende Story. Autoren, die ich bewundere, wollen das Beste aus beiden Welten, aus Literatur und Krimi. Sie versuchen, diese Unterscheidung zu pulverisieren.
SPIEGEL ONLINE: Der deutsche Krimiautor Robert Brack bezweifelte vor Kurzem, dass "Nussschale" von Ian McEwan, in dem ein Mordkomplott aus der Sicht eines ungeborenen Kindes erzählt wird, ein "richtiger" Krimi sei. Gibt es immer noch Regeln, was ein Krimi darf und was nicht?
French: Viele Leser glauben, dass die Regeln, die vor mehr als hundert Jahren etabliert wurden, immer noch gelten sollten. Diese Regeln hatten ihren Sinn, als sie neu waren und man sich daran abarbeitete, sie zu erkunden und zu erweitern. Immer mehr Autoren nutzen sie inzwischen aber nur noch als Sprungbrett. Sie schreiben einfach das bestmögliche Buch und kümmern sich nicht darum, welches Label später draufsteht. Ich hoffe, dass ich zu den Autoren gehöre, die dazu beitragen, die Mauer zwischen Kriminalroman und Literatur einzureißen.
Gefrorener Schrei: Roman (Mordkommission Dublin, Band 6)
Preisabfragezeitpunkt
02.04.2023 11.15 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL ONLINE: Ihr neuer Roman "Gefrorener Schrei" erzählt von einer Polizistin, die den Mord an einer jungen Frau aufklären soll, dabei aber von ihren Kollegen behindert wird. Ein fast schon klassisches Polizeikrimi-Thema also. Haben Sie bewusst ein von Männern bestimmtes Genre gewählt, um die Schicksale zweier Frauen zu erzählen?
French: Es stimmt, die meisten police procedurals stammen von Männern, aber vor allem in den USA gibt es Ausnahmen, wie Laura Lippman. Ironischerweise bin ich über meine weibliche Hauptfigur, Antoinette Conway, darauf gekommen, mich auf diesem männlich dominierten Spielfeld zu versuchen. Sie ist so faszinierend, weil sie sich nicht darum schert, was irgendjemand von ihr denkt oder will - keine besonders gesunde Einstellung allerdings. Die meisten von uns passen sich im Laufe ihres Lebens an, finden ein Gleichgewicht zwischen ihren Bedürfnissen und denen der anderen.
SPIEGEL ONLINE: Antoinette tritt gegenüber ihren Kollegen sehr aggressiv auf. Formt diese Art, sich selbst zu schützen, letztlich ihren gesamten Charakter?
French: Antoinette hat im Job üble Erfahrungen gemacht - grausame Streiche, Schikane, Sabotage -, deshalb fühlt sie sich als einsame Kriegerin, die in eine von vornherein verlorene Schlacht zieht. Das beeinflusst auch ihr Privatleben, sie hat das Gefühl, permanent kämpfen zu müssen. Erst am Ende des Romans gelangt sie zu der Erkenntnis, dass einige ihrer Gewissheiten nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun haben.
SPIEGEL ONLINE: Antoinette ist die einzige Frau in der Mordkommission und die einzige multi-ethnische Figur. Macht sie das zusätzlich angreifbar?
French: In gewisser Weise schon. Aber für mich ist das nicht das Entscheidende. Die Arbeit von Polizisten besteht zu einem großen Teil daraus, Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen. Ein Verdächtiger soll gestehen, ein widerwilliger Zeuge Informationen preisgeben. Bei Polizeiarbeit geht es immer um Macht. Antoinettes Kollegen wollen ihr zeigen, wer der Boss ist. Und da ist es fast nebensächlich, dass sie eine Frau ist oder von multi-ethnischer Herkunft. Sie wollen ihr zeigen, wo ihr Platz in der Hierarchie ist, und sie wollen die Top-Position in der Hackordnung erobern.
SPIEGEL ONLINE: Auch Verhöre sind Machtspiele, wie "Gefrorener Schrei" ausgiebig zeigt. Hatten Sie Hilfe bei den realistischen Verhörszenen?
French: Ich kenne einen pensionierten Polizisten, der mir seit zehn Jahren bei meinen Recherchen hilft. Er hat mir gezeigt, wie man Verhöre durchführt, indem er mich die Verdächtige spielen ließ. Das war eine Offenbarung! Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich dieser nette umgängliche Mann in eine unaufhaltsame Macht. Er war nicht wirklich aggressiv, aber es war klar zu spüren, dass er bekommen würde, was er wollte und nichts ihn hätte aufhalten konnte. Als würde ein Zug auf mich zurasen.
SPIEGEL ONLINE: Was fasziniert Sie an der Verhörsituation besonders?
French: Der Unterschied zwischen Polizist und Verdächtigem. Ein Profi trifft auf einen Amateur. Polizisten haben so viele Waffen und Techniken zur Verfügung, während der Verdächtige oder Zeuge in der Regel nicht weiß, was ihm gerade widerfährt. Seine einzige Waffe ist sein Schweigen. Die Aufgabe des Verhörenden ist es, den Verdächtigen dazu zu bringen, diese Waffe fallen zu lassen und zu reden.
SPIEGEL ONLINE: Die Geschichte der Ermittlerin Antoinette wird gespiegelt in der Geschichte des Mordopfers: Aislinn, eine attraktive Frau, hinter deren vordergründiger Lebenslust sich ein Abgrund aus Verzweiflung verbirgt. Auch sie glaubt, nur durch Anpassung an die Männerwelt zu Ziel zu kommen.
French: Aislinn verwandelt sich in einen Männertraum, sie wirkt sexy und immer verfügbar. Der Unterschied zwischen den Frauen ist, dass Antoinette sich weigert, überhaupt irgendwelchen Erwartungen gerecht zu werden, während Aislinn sie übererfüllt. Beides ist nicht unbedingt gesund.
SPIEGEL ONLINE: Kritisieren Sie in Ihrem Buch nicht letztlich, dass sich Frauen, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, männlichen Vorstellungen anpassen müssen?
French: Wenn Aislinn sich so extrem verhält, wie sie es tut, geht es mir nicht darum, dass sie eine Frau ist. Es ist für niemanden eine gute Entscheidung, sich so zu verhalten, wie man glaubt, dass es von einem erwartet wird. Männer verspüren den gleichen Druck - der Ernährer zu sein, keine Schwächen zu zeigen. Auch Antoinette verweigert sich nicht den Erwartungen, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie in einer Gemeinschaft lebt, die von ihr verlangt, als Teil eines Ganzen zu funktionieren. In einer Mordkommission wird jeder, der nicht auf die anderen eingeht, Ärger bekommen, egal ob Mann oder Frau.